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Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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fuhr, griff Catherine in die blaue Tasche und holte die sechs Bücher in dem dicken Umschlag heraus. Vorsichtig schlug sie das paläobotanische Handbuch auf und entfaltete die erste vergilbte Papyrus-Seite.
    Dann begann sie zu lesen…

    Seltsame Vorzeichen ereigneten sich in der Nacht meiner Geburt.
    Meine Mutter erzählte mir später von einer Wahrsagerin, die in unserem Haus erschien. Meine Familie kannte sie nicht, aber die trau sagte, sie habe eine wichtige Nachricht von den Priesterinnen der Hekate. Es gehe um das Schicksal des Kindes, das unter diesem Dach zur Welt kommen werde. Ich verstand die ganze Tragweite der Prophezeiung erst viele Jahre später. Aber verzeih mir, liebe Amelia, ich greife vor. Zuerst sende ich Dir und meinen Schwestern auf dem Weg des Gerechten meine Grüße. Euch gilt mein Friedenskuß, und ihr sollt wissen, daß meine Mutter ein Diakon war, was auch ich werden sollte, ehe das Schicksal eingriff und den Weg meines Lebens für immer veränderte.
    Das Schicksal hielt Wundersames für mich bereit. In den acht Jahrzehnten meines Lebens begegnete ich Königen und Bauern, Staatsmännern und Dieben. Ich habe die Kunst des Heuens gelernt, ich brachte Kinder zur Welt und spendete Sterbenden Trost. Ich bin bis an die entferntesten Grenzen des Reichs gereist und habe die erstaunlichsten und auch schrecklichsten Dinge erlebt. Doch an allen Orten, in den Städten und Dörfern, bei weisen Männern und Frauen, bei den Unwissenden und Schlechten, den Gebildeten und Ungebildeten, den Hoffenden und Verzweifeiten habe ich eine weltumspannende Wahrheit gelernt. Trotz der unendlich vielen Unterschiede, die uns voneinander trennen, bewegt uns alle die eine Frage: Was geschieht mit uns, wenn wir sterben?
    Liebe Schwestern, in den vielen Jahren, unterwegs auf fernen Straßen, bei den Begegnungen auf den Marktplätzen und in den Karawansereien der Welt habe ich schließlich die Antwort gefunden.
    Aber bevor ich mein Wissen mit euch teile, muß ich die Geschichte am Anfang beginnen.
    Ich wurde in Antiochia, in Syrien, als einzige Tochter einer reichen und angesehenen Familie geboren.
    In ihrer Jugend war meine Mutter in die Mysterien des Hermes Logos eingeweiht worden. Jedes Jahr feierte meine Familie mit den anderen Bürgern von Antiochia die Wiedergeburt des Hermes. Wir gingen zum Fluß und hielten am nächtlichen Himmel Ausschau nach dem Stern Sirius. Sein Erscheinen am Horizont wurde von den drei Sternen im Gürtel des Orion angekündigt, die man die ›Drei Könige‹
    nannte. An diesem heiligen Tag blickten wir am frühen Morgen auf die Stelle am Horizont, zu der die Drei Könige wiesen, denn dort würde der Stern erscheinen. Wenn er dann aufging, war der Jubel groß, denn das bedeutete, Hermes war wiedergeboren, und wir sangen das Lied: Leben, rette uns mit deiner Kraft! Gott mache uns zu geistigen Wesen. Die Ewigkeit schenkt uns den Segen. Nur bei Dir finden wir Frieden…
    Mein Vater gehörte zu den Anhängern des Mithras. In jeder Woche nahm er am Tag der Sonne an geheimen Ritualen im Tempel teil. Mithras war damals ein mächtiger Gott in Antiochia. Er stand sogar über Isis, der Himmelskönigin. Liebe Amelia, ich frage mich, ob Mithras immer noch diese Macht besitzt. Meine Mutter glaubte an die Kraft von Amuletten. Sie legte mir am Tag meiner Geburt das Hermeskreuz um den Hals, und bis auf den heutigen Tag, liebe Schwestern, trage ich es über meinem Herzen.
    Sie glaubte wie alle Anhänger des Hermes Logos an die Magie des Wortes, denn der Gott ist das sichtbar gewordene Wort. Hermes sprach das Wort, und die Welt wurde erschaffen. Er ist ein verständnisvoller Gott, und alle seine Anhänger sind glücklich. Doch trotz ihres Glaubens war meine Mutter keine glückliche Frau.
    Ich hatte einen Bruder, der als kleines Kind starb. Als Dreijähriger erkrankte er am Fieber und überlebte es nicht. Meine Eltern waren untröstlich. Mein Vater brachte es später nie über sich, von seinem toten Sohn zu sprechen. Ich wuchs in einem stillen Haus heran. Die Erinnerung an meinen Bruder stand immer zwischen mir und meinen Eltern. Es gehörte zu unserem wöchentlichen Ritual, zum To-tenfeld zu gehen und das Grab meines Bruders zu pflegen. Meine Großmutter, die Tanten und Nichten begleiteten meine Mutter dorthin. An seinem Grab fand dann ein rituelles Mahl statt. Die Frauen sprachen zu ihm, sie gaben ihm durch ein Rohr, das in seinen Sarg führte, Milch und Honig, so wie alle Angehörigen durch ähnliche Röhren

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