Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Alice trat zur Seite und wartete, um mir zu folgen.
Ich überlegte hastig. »Alice, das Feuer in meinem Zimmer ist ausgegangen. Ich weiß, dass die Sorge darum eigentlich nicht Eure Aufgabe ist, aber – «
»Ich kümmere mich sofort darum, Madam.« Alice eilte in mein Schlafzimmer.
Erleichtert setzte ich meinen Weg fort. Von all dem Neuen, an das ich mich gewöhnen musste, störte mich am meisten, ständig eine Zofe auf den Fersen zu haben. Gertrude hatte sie mir zugewiesen, und sie war ja auch eine willige junge Person, aber ich hatte jahrelang keine persönlichen Bediensteten gehabt. Früher, auf Stafford Castle, hatten meine Mutter und ich uns eine Bedienerin geteilt, die unwirsche Mrs Hadley, eine Bauersfrau, und wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich Hadleys vorwurfsvolle Seufzer bei jedem kleinsten Handgriff der Dienstbeflissenheit von Alice vorgezogen. Vielleicht lag es daran, dass meine neue Zofe ständig wissen wollte, was ich vorhatte, weil sie meinte, mir dann besser dienen zu können, ich aber häufig keine Antwort auf ihre Fragen wusste. Arthurs Tage waren angefüllt mit Lernen und Spielen an der Seite Edward Courtenays und seiner Lehrerschar. Mein Platz im Haus war weniger klar bestimmt.
Ihrem Wort getreu mied Gertrude den königlichen Hof. Seit meiner Ankunft hatte sie Red Rose nicht verlassen. Sie ließ die Leute zu sich kommen: Scharen von Besuchern, von der Schneiderin bis zum Heilkundigen, vom Goldschmied bis zum Gelehrten, sprachen bei ihr vor und nahmen ihre Zeit in Anspruch. Bei ihren Geschäften war sie stets umgeben von ihren Dienern, Zofen und Hofdamen.
Auch jetzt, gegen Mitte des Vormittags, summte das Haus vorGeschäftigkeit. Jeden Morgen standen die Bediensteten früh um fünf Uhr auf und waren dann den ganzen Tag bis Sonnenuntergang auf den Beinen. Ich kam mir seltsam vor, so tatenlos inmitten all dieser Betriebsamkeit.
Auf dem Weg zu der Treppe, die zu Gertrudes Gemächern führte, musste ich an einem Raum des Hauses vorbei, der mir nicht geheuer war – dem sogenannten Rittersaal. Es war ein riesiger leerer Raum, der nie benutzt wurde. An jenem ersten Morgen, bevor die Schneiderinnen aufmarschierten, hatte Gertrude mir das Haus gezeigt. Sie hatte die hohe Flügeltür zum Rittersaal aufgestoßen und mich hindurchgeführt.
Und dabei war etwas geschehen, was ich mir bis heute nicht erklären konnte.
Ich hatte den gewaltigen offenen Kamin betrachtet, so hoch, dass selbst ein großer Mensch aufrecht darin stehen konnte, und blank gefegt. Seit Monaten, seit Jahren vielleicht, hatten keine Flammen an seinen Mauern gezüngelt. Zwei Kalksteinfiguren über dem Sims zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie entsprachen nicht den Bildern, die man gewöhnlich als schmückendes Beiwerk eines Kamins sah. Es waren zwei geflügelte Löwen, die Mäuler weit aufgerissen, wie mitten im Brüllen.
Als ich näher trat, um sie mir genauer anzusehen, überfiel mich ein seltsames Grauen. Einen Augenblick später vernahm ich rätselhafte Stimmen.
Zuerst sprach jemand: » Möge Gott der Allmächtige Euch segnen .«
Darauf folgte ein kurzer schriller Schrei, wie der eines Kindes.
Und dann Männergelächter.
Die Stimmen flogen mich blitzartig an und verstummten wieder. Ich sah Gertrude an und dann Constance, die Hofdame, die hinter ihr stand. Keine von beiden zeigte eine Reaktion.
»Habt Ihr das auch gehört?«, fragte ich Gertrude.
Sie schüttelte den Kopf, so verwundert wie Constance.
Beinahe hätte ich mich ihr anvertraut, aber das Bedürfnis schwand gleich wieder, und ich folgte Gertrude zur Tür hinaus,ohne etwas zu sagen. Der Abschied von Dartford war schließlich nicht leicht gewesen, und die erste Nacht in London hatte ich nicht gut geschlafen. Vielleicht war ich einfach übermäßig angespannt. Auf keinen Fall wollte ich bei Gertrude den Eindruck erwecken, ich sei nicht bei klarem Verstand.
Seit jenem ersten Nachmittag hatte ich keinen Anlass gehabt, den Rittersaal zu betreten. Aber jedes Mal, wenn ich an ihm vorüberkam, plagte mich die Erinnerung an das, was ich gehört hatte. Waren es bloße Hirngespinste, oder war es etwas Unheimlicheres? War es vielleicht eine Vision ?
Der Gedanke führte mich zurück in die Finsternis des Klosters St. Sepulchre in Canterbury und zu dem furchterregenden Zusammentreffen mit Schwester Elizabeth Barton.
An jenem Tag im Jahr 1528 hatte meine entsetzte Mutter mich in Windeseile aus dem Kloster fortgebracht. Ich sagte ihr nur, dass die Nonne einen Anfall
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