Die Prophezeiung der Steine
könnten das mit ihnen herausbekommen. Sie sind Sänger und Akrobaten, weißt du, wie Osyth es auch einmal war - die am schlechtesten angesehenen Wanderer.« Für einen Moment hellte sich sein Gesicht auf. »Du solltest Flax’ Stimme mal hören - er singt wie ein Wiesenstärling.«
Sie zuckte mit den Schultern. Osyths Pläne oder Flax’ Stimme interessierten sie nicht besonders. »Du musst sie einfach vor ihnen verbergen.«
Im Laufe des Winters wurde Gorham schweigsamer und verhärmter. Er verbarg seine Sorgen hinter harter Arbeit, und davon gab es genug. Der Winter war sehr streng, und der Boden zu hart, als dass man die Pferde hätte hinauslassen können, um auf den Feldern zu reiten. Das bedeutete, dass man jeden Morgen Schnee, Pinienrinde und verstreutes Sägemehl aus dem großen Hof schaufeln musste. Die Pferde wurden dann dort so lange an der Longe geführt, bis das Tageslicht schwand.
Gorham fehlte nun häufiger, als es ihm gelegen kam, weil die Wahlen zum Stadtrat anstanden. Osyth nahm jede Gelegenheit wahr, Gorhams Chancen zu verbessern; sie gab
Empfänge, nahm an solchen teil, und kam »zufällig« bei Leuten auf einen Plausch vorbei. Wahrscheinlich bestach sie auch Leute, dachte Bramble (falls sie es über das Herz brachte, sich von ihrem Silber zu trennen). Die Nebensächlichkeiten, für die die meisten Leute sich interessierten, lie ßen Bramble den Kopf schütteln. Sie konzentrierte sich darauf, den Rotschimmel gesund und stark durch den Winter zu bringen, damit sie gleich nach dem Wetterumbruch mit dem Training für die Rennen beginnen konnten.
Eines Tages dann kam Gorham mit bleicher Miene zum Hof.
»Osyth ist tot«, sagte er. »Letzte Nacht. Ich war bei Maude. Der Riegel an ihrem Fenster ist zerbrochen. Sie ist im Schlaf erfroren.«
Er sprach jeden Satz getrennt aus, als würde ihm kein anderer folgen. Bramble fand es sonderbar: Die meisten Leute wachten doch auf, wenn ihnen zu kalt wurde.
Gorham bemerkte ihre Reaktion. »Sie hat manchmal einen Schlaftrunk zu sich genommen«, sagte er. »Wenn ich zu Maude gegangen bin.«
Er fühlte sich schuldig, das erkannte sie. Aber die Schuld in ihm war offenbar stärker als der Kummer, und womöglich deswegen so stark, weil sich in den Kummer auch Erleichterung mischte.
Nach einer Stunde ging er wieder nach Hause; er hatte dreimal das gleiche Zaumzeug gereinigt. Bramble versuchte, Mitgefühl für ihn aufzubringen, war sich jedoch nicht sicher, ob Mitgefühl das war, was er brauchte. Vielleicht war es Absolution.
Natürlich ging sie am nächsten Tag zur Beerdigung, stellte sich mit Gorham an die Öffnung der Grabhöhle und hörte zu, wie der Stadtdirektor die Worte des Abschieds sprach.
»Mögest du nicht unterwegs verweilen. Die Zeit ist, und die Zeit ist gegangen«, sagte er.
»Die Zeit ist, und die Zeit ist gegangen«, erwiderten die Trauergäste.
»Mögest du Freunde finden. Mögest du jene finden, die du geliebt hast. Die Zeit ist, und die Zeit ist gegangen.«
»Die Zeit ist, und die Zeit ist gegangen.«
»Unter deiner Zunge ist Rosmarin; erinnere dich an uns. In deinen Händen ist Immergrün; möge unsere Erinnerung an dich immer frisch bleiben. Die Zeit ist, und die Zeit ist gegangen.«
Dann trugen sie sie in die Grabhöhle und rollten den Fels wieder vor den Eingang.
Gorhams Kinder waren nicht da.
»Ich habe ihnen gesagt, meinetwegen könnten sie kommen«, sagte Gorham. »Osyth war es, die mich in den Stadtrat bringen wollte, also dürften die Leute jetzt ruhig erfahren, dass wir Wanderer waren. Aber Flax ist immer noch sehr krank, und Zel will ihn nicht alleine lassen.«
Maude befand sich zwar unter der Menschenmenge, kam aber hinterher nicht mit ins Haus, wo die Trauergäste Honig und Salzkuchen aßen. Flax und Zel kamen nicht herunter. Allerdings bemerkte Bramble, dass Gorham ein paarmal nach ihnen schaute.
Zwei Wochen später wurde Gorham in den Stadtrat gewählt. »Ich habe vergessen, meine Aufstellung zurückzunehmen«, sagte er ein wenig benommen bei der Wahlfeier auf dem Marktplatz.
Bramble lächelte ihn breit an. »Du hast die Mitleidsstimmen bekommen, Mann«, sagte sie. »Würde Osyth das nicht freuen?« Und das fanden sie beide irgendwie lustig, dass Osyth bekommen hatte, was sie wollte, als bestimme sie sein Leben noch aus dem Grab heraus.
Gorhams Kinder lernte Bramble nie kennen, denn als es wärmer wurde, verließen sie die Stadt über die Straße nach Nordwesten. Drei Monate später heiratete Gorham Maude. Er wurde
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