Die Prophezeiung des Adlers
Aber die Sibylle hat sie ihm nicht einfach geschenkt, sie hat sie ihm verkauft. Für ein Vermögen. Sie hat ihm nur drei der Bücher verkauft.«
»Es gab noch mehr?«
»Oh ja. Zusammengenommen sechs. Sechs Bücher, die angeblich die gesamte Zukunft Roms und des römischen Volks prophezeiten. Ein teures Gut. Sie kam also nach Rom und bot sie Tarquinius für einen Preis an, der ihn zum Bettler gemacht hätte. Er lehnte natürlich ab. Sie ging weg, verbrannte eines der Bücher, kam am nächsten Tag mit fünf Büchern zurück und verlangte denselben Preis. Er lehnte erneut ab, also verbrannte sie noch ein Buch, kehrte zurück und verlangte wieder denselben Preis. Er lehnte ein letztes Mal ab, und sie vernichtete ein drittes Buch. Als sie wieder zu ihm kam, war er verzweifelt und bezahlte, was sie verlangte. Deshalb sind es lediglich die ersten drei Bücher, die wir heute im Tempel Jupiters haben. Unsere Priester ziehen sie zurate, wann immer es irgendeine Krise gibt, und versuchen herauszufinden, was geschehen wird. Was nicht leicht ist, wenn man nur die Hälfte der Information vor sich hat.«
»Verstehe.« Macro blickte ins flackernde Licht des Feuers. »Und was haben die Schriftrollen, hinter denen wir her sind, mit den Sibyllinischen Schriftrollen zu tun?«
Cato beugte sich ein wenig vor. »Verstehst du denn nicht? Sie sind die Sibyllinischen Schriftrollen.«
»Was, willst du etwa behaupten, die Rollen im Jupitertempel sind Fälschungen?«
»Nein. Nein. Hör mir mal zu. Denk doch darüber nach. Die Sibylle wusste, dass die Schriftrollen unbezahlbar waren. Warum um alles in der Welt sollte sie sie da zerstören?«
»Wie du es gesagt hast. Um bei den Verhandlungen Druck auf König Tarquinius auszuüben.«
»Das ist ihr auch gelungen«, räumte Cato ein. »Aber wäre es nicht ein raffiniertes Manöver gewesen, die Schriftrollen an einem sicheren Ort zu verwahren und nur zu behaupten, dass sie sie verbrannt hätte? Später kommt einmal ein neuer König mit einem neuen Vermögen, und dann kann die Sibylle, oder ihre Nachfolgerin, enthüllen, dass noch weitere Schriftrollen existieren. Unterdessen hätten die Römer entdeckt, dass die ersten drei Rollen für sich allein beinahe nutzlos waren. Sie wären bereit, nahezu jeden Preis zu zahlen, um die letzten drei Schriftrollen in ihren Besitz zu bringen und die Prophezeiung zu vollenden.«
»Und warum hat sie dann nicht versucht, die Bücher später zu verkaufen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie das Gefühl, dass die rechte Zeit noch nicht gekommen war. Vielleicht hat sie darauf gewartet, dass Rom reich genug wurde, um den gewünschten Preis zu zahlen. Vielleicht hat sie ihr Geheimnis auch zu gut bewahrt und ist gestorben, bevor sie ihrer Nachfolgerin von den Rollen berichten und ihr das Versteck verraten konnte. Ich weiß es nicht. Ich rate nur. Es gibt Geschichten von Männern, die sie gesehen haben wollen. Ich habe sogar gehört, sie seien unmittelbar vor der Schlacht von Actium in Marcus Antonius’ Hände gefallen. Er hätte Augustus schlagen können, aber aus irgendeinem Grund versagten ihm im letzten Augenblick die Nerven, und er überließ seine Flotte der Zerstörung. Es wird berichtet, er habe am Vorabend der Schlacht die Sibyllinischen Schriftrollen gelesen, und die hätten seine Niederlage vorhergesagt.«
Macro starrte ihn an. »Hältst du das für wahr?«
Cato lachte. »Wie soll man das wissen? Seine Flotte ging verloren, weil er das Hasenpanier ergriffen hat. Wenn er wegen irgendeiner Prophezeiung geflohen ist, ist er ein sogar noch größerer Dummkopf, als die Historiker ohnehin schon glauben. Unser Schicksal steht nicht in den Sternen geschrieben. Wir erschaffen es uns selbst. Der Rest ist einfach nur eine Geschichte.«
»Sie könnte aber stimmen«, beharrte Macro. »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als in deinen Büchern steht, Cato.«
»Vielleicht.« Cato zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht hat Antonius nicht nur seine Geliebte falsch gewählt, sondern auch seine Flotte schlecht geführt.«
Macro zuckte mit den Schultern und starrte verdrossen ins Feuer. Cato fürchtete schon, er sei vielleicht mit seinen Bemerkungen gegen Macros geliebten Aberglauben zu weit gegangen. Er beschloss, neu anzusetzen, und räusperte sich. »Was seit damals vorgefallen ist, steht jedenfalls zweifelsfrei fest.«
»Ach ja?«
»Jemand hat die Schriftrollen entdeckt und sie als das erkannt, was sie sind. Er ist mit dem Kaiser
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