Die Prophezeiung von Umbria
den Han geschnappt worden zu sein.”
Auch wenn niemand sie sehen konnte, verdrehte Maura die Augen und schüttelte den Kopf. Raths übertriebener Beschützerinstinkt war manchmal wirklich ärgerlich. Und genauso … rührend.
Wie sie sich wünschte, ihn fühlen zu können! Nur für einen kurzen Augenblick, den Kopf an seine Schulter zu lehnen oder die Hand in seine gleiten zu lassen! Die kleinen Unannehmlichkeiten in ihrem Versteck machten ihr nichts aus, aber ihr fehlte Raths Nähe, seine Gesellschaft, jetzt, wo ihre gemeinsame Zeit sich dem Ende zu neigte.
Sie wollte noch mehr über ihn wissen, als er ihr bereits erzählt hatte. Und da das im Moment unmöglich war, war es vielleicht das Beste, alles über den Jungen in Erfahrung zu bringen, der sie so sehr an Rath erinnerte.
“Bist du hungrig?”, flüsterte sie auf Comtung.
“Denke schon.” Das Heu raschelte, als der Junge zum hinteren Ende des Wagens gekrochen kam. “Warum? Hast du etwas zu essen?”
“Ein wenig.” Maura suchte unter dem Heu neben ihr nach ihrem Packen. “Ein Stück Brot und ein wenig Käse. Willst du etwas davon?”
“Wie viel?”
“Nicht viel.” Maura hatte den Proviant gefunden. “Aber ich gebe es dir gerne.”
“Nicht gerade viel”, murmelte der Junge verächtlich. “Und wie viel willst du dafür?”
“Wie bitte?” Maura lachte leise. “Mein Comtung ist nicht sehr gut.”
“Was hast du zuvor gesprochen?”, fragte der Junge, und an seiner Stimme konnte man hören, dass er plötzlich auf der Hut war. “Hanisch?”
Jetzt hätte Maura fast laut aufgelacht. “Nicht Hanisch. Umbrisch. Die wahre Sprache unseres Volkes.”
“Nie davon gehört.”
“Du musst für das Essen nicht bezahlen.” Dann erinnerte sie sich daran, wie misstrauisch Rath gegenüber Hilfe gewesen war, die nichts kostete. “Aber hilf mir, mein Comtung zu verbessern.”
Nach kurzem Zögern fragte der Junge: “Bist du
Twarith?”
“
Twarith?”
Maura wusste, was das hieß. Aber das Wort aus dem Mund eines Kindes zu hören, das kein Umbrisch sprach, überraschte sie.
“So nennen die sich selbst”, meinte der Junge. “Sie sprechen eine komische Sprache. Und sie erzählen komische Geschichten. Sie geben den Leuten Sachen und helfen ihnen.”
Er klang, als wäre ihre Großzügigkeit für ihn genau so unbegreiflich wie ihre Sprache und ihre Geschichten.
“Ich denke, ich bin
Twarith.”
Das Wort meinte
Gläubiger
, und sie war gläubig genug gewesen, durch das ganze Königreich zu reisen. “Doch ich gehöre keiner Gruppe an. Ich würde aber gerne diese anderen
Twarith
treffen. Wo kann ich sie finden?”
“Gib mir das Essen, und ich sage es dir.”
“Hier.” Maura streckte das Brot und den Käse ins Heu und fühlte, wie es ihr aus der Hand gerissen wurde. “Ich gebe es dir, egal ob du es mir sagst oder nicht.”
“Gut.” Der Junge kaute gierig. “Ich weiß es nämlich nicht.”
“Sei nicht so frech, du Winzling”, fuhr Rath ihn an. Maura hatte ganz vergessen, dass er ihre Unterhaltung gehört haben musste. “Die Dame behandelt dich besser, als du es verdienst.”
Twarith.
Maura genoss den Klang des Wortes und seine Bedeutung. Hier, in der am stärksten unterdrückten Provinz des Königreiches, gab es also immer noch Umbrianer, welche die alte Sprache am Leben erhielten und die Gebote des Allgebers befolgten?
Hätte sie doch mehr Zeit, um sie zu finden und mit ihnen zu reden! Zeit, in ihren Herzen die Hoffnung zu wecken, dass der Wartende König ihnen zu Hilfe kommen würde. Und sie hätte ihnen gerne gedankt für ihre Treue während dieser dunklen Tage.
“Hast du einen Namen, Junge?”, fragte sie, nachdem er alles aufgegessen hatte.
“Schlange”, erklärte er trotzig, als ob er sie warnen wollte, sich über den Namen lustig zu machen.
In Gedanken hörte sie noch einmal Raths Worte:
Niemand gab ihn mir. Wie alles in meinem Leben habe ich ihn mir genommen.
“Schlangen sind schnell und schlau”, sagte Maura. “Und manchmal gefährlich.”
Der Junge gab undefinierbare Laute von sich, die wahrscheinlich Zustimmung bedeuteten.
“Ich weiß eine Geschichte über eine sehr schlaue Schlange. Die Dreiköpfige Schlange vom Weißen Felsen. Möchtest du sie gerne hören?”
“Ich denke schon.” Der Junge gab sich Mühe, uninteressiert zu klingen, aber Maura hörte so etwas wie Hunger in seiner Stimme, Hunger des Geistes, der nur mit Geschichten, Liedern und der Möglichkeit, an etwas zu glauben, gestillt werden
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