Die Prophezeiung von Umbria
konnte.
“Es war einmal”, begann Maura, “da schlüpfte in den Schatten unter dem Weißen Felsen eine winzige Schlange mit drei Köpfen aus.”
“Hebe dir die Geschichte für später auf”, rief Rath. “Wir kommen in ein Dorf. Ich möchte nicht, dass jemand euch hört und misstrauisch wird.”
“Bist du in diesem Dorf zu Hause?”, fragte Maura den Jungen. “Sollen wir dich hier absetzen?”
“Hab kein Zuhause. Wir ziehen herum.”
Er schwieg und lenkte Maura nicht mehr von den Geräuschen ab, die ihr nun schon erschreckend vertraut geworden waren. Das Weinen kranker Kinder. Frauen, die ältere Kinder mit schrillen Stimmen voller Verzweiflung ausschimpften. Han-Soldaten, die Befehle bellten und Leute schikanierten. Das Klatschen von Schlägen und dann Schmerzensschreie. Ab und zu die tonlose, teilnahmslose Stimme eines
Slaggies
, der für kurze Zeit vor all dem flüchten wollte und dafür einen hohen Preis zahlte.
Ein Teil von ihr wollte sich die Ohren zuhalten, doch ein anderer Teil bestand darauf, dass sie all das hören und die Unterdrückung der Han sehen sollte, um ihre Entschlossenheit zu stärken. Doch dadurch wurde es nicht leichter für sie, dazusitzen und alles mit anzuhören, ohne helfen zu können.
Hin und wieder vernahm Maura jetzt einen friedlicheren Ton. Sie brauchte einige Zeit, bis sie merkte, dass der Junge eingeschlafen war und leise schnarchte.
Immerhin hatte sie etwas getan. Sich eines einzigen Jungen anzunehmen mochte nicht viel sein, aber es war ein Anfang.
Die Geräusche des Dorfes wurden immer leiser, bis Maura nur noch die sanften Stimmen der Landschaft hörte – Vogelgezwitscher, das Summen der Bienen, das Flüstern des Windes in den Zweigen. Sie trösteten sie und erinnerten sie daran, dass es Dinge gab, die das mächtige Imperium der Han nicht bezwingen konnte.
Kurz darauf fuhr der Wagen langsamer und bog dann von der Straße ab. Während das rhythmische Klopfen der Pferdehufe verklang und der Wagen anhielt, drang das Gluckern und Plätschern von fließendem Wasser an Mauras Ohr. Dann das vertraute Geräusch, wie Blen und Rath vom Kutschbock kletterten.
“Hier ist weit und breit niemand”, sagte Rath. “Ihr könnt herauskommen – alle beide.”
Maura krabbelte aus dem Heu. “Da bin nur ich”, meinte sie und streifte die Kapuze ab, die ihr Haar vor den Halmen geschützt hatte. Sie genoss die kühle Brise auf ihrem erhitzten Gesicht. “Der Junge ist eingeschlafen.”
Sie schaute von Rath zu Blen. “Können wir ihn nicht schlafen lassen und noch ein Stück mit uns nehmen? Je größer der Abstand zwischen ihm und den Han ist, desto besser für uns alle, meint ihr nicht auch?”
Rath runzelte die Stirn. “Mir wäre lieber, du würdest ihm etwas Traumkraut geben und wir ließen ihn hier. Auf diese Art wären wir schon weit weg, wenn es dem undankbaren Burschen einfallen sollte, jemandem etwas über uns zu erzählen.”
“Glaubst du, er hat seine Drohung ernst gemeint?” Maura schlenderte zum nahen Bach, der verlockende Erfrischung versprach. “Das Kind hat die einzige Waffe benutzt, die es besaß, um uns zu zwingen. Hättest du es etwa nicht genauso gemacht?”
Rath überhörte ihre Frage.
“Schlange”, brummte er vor sich hin, während er sich niederbeugte, um seinen Trinkschlauch zu füllen. “Ein passender Name für solch eine kleine Viper. Glaub mir, wenn du ihn zu nahe an dich heran lässt, wird er uns alle beißen.”
“Bitte, Blen?” Maura wandte sich jetzt an den Bauern. “Der Junge kann nicht viel älter sein als Euer Sohn. Ich bezweifle, dass er nur aus Spaß vor den Han davonläuft.”
“Nun – also gut.” Blen kniete am Ufer des Baches nieder und spritzte sich Wasser ins Gesicht. “Ich denke, es wird uns nicht schaden, ihn noch ein wenig mitzunehmen. Schließlich kann er keine großen Dummheiten anstellen, wenn er schläft, oder?”
“Ich danke Euch.” Maura schenkte dem Bauern ihr wärmstes Lächeln. “Ihr ehrt den Allgeber mit Eurer Freundlichkeit.”
Rath und der Bauer wechselten einen kurzen Blick.
“Aber der Bursche soll seine Zunge im Zaum halten und seine Diebesfinger dazu”, forderte Blen mürrisch. “Oder ich werfe ihn vom Wagen.”
“Ich bürge für den Jungen”, versprach Maura. “Und ich werde ein Auge auf ihn haben. Ich weiß, ihr beide denkt, dass es dumm von mir ist, ihm eine Chance zu geben, aber ich bin nicht blind. Ich sehe, was er ist.”
Sie blickte Rath fest an. “Vielleicht ist er nicht
Weitere Kostenlose Bücher