Die Prophezeiung
„Was kann ich denn schon tun?“
Azriel musterte das Mädchen kritisch. „Nun, vielleicht bist auch du zu schwach und wir haben uns getäuscht. Aber wenn du sonst auch zu ängstlich sein magst, du weißt viel. Lerne bei mir und gib dein Wissen eines Tages an eine Würdigere weiter!“
Rianna schluckte bei dieser offenen Kritik und senkte den Kopf. „Du könntest helfen, den Mörder deines Bruder zu bestrafen…“, lockte die Alte.
Rianna hob entschlossen den Kopf und sah Azriel fest in die Augen.
„Also gut, lehre mich, was d u mich lehren willst. Aber wie und gegen wen ich es anwende, ist allein meine Sache! Hast du das verstanden, Hexe? Ich bin nicht wie du, ich bin eine Heilerin!“
Azriel nickte ergeben. Das Schicksal würde schon wissen, warum es das Mädchen zu ihr geschickt hatte. Vielleicht war doch mehr an ihr dran, als auf den ersten Blick zu erkennen war.
Zwei Jahre war Rianna nun bei Azriel in der Lehre und auch wenn die Alte über ihr Eingreifen meckerte, hinderte sie sie nicht daran, die Menschen der umliegenden Dörfer ohne Bezahlung zu heilen, wann immer es ihr möglich war. Ihre Aufopferung für andere beeindruckte die Hexe, auch wenn sie es niemals zugegeben hätte. Eines Abends, als Rianna das Essensgeschirr in das kärgliche Regal räumte, ertönte ein scharfer Knall. Rianna erschrak so sehr, dass sie fast die einzige große Tonschüssel, die sie besaßen, fallen gelassen hätte. Azriel dagegen blieb ungerührt sitzen und murmelte nur: „Hat sich ja Zeit gelassen, der Herr!“ Rianna wartete neugierig auf eine weitere Erklärung, die aber nicht nötig war, denn in diesem Augenblick flog die Tür auf und ein Windstoß fegte herein, der jede Menge Staub mitbrachte. Rianna hielt sich die Hand vor Augen, um den Sand von den Augen fernzuhalten. Als der Wind verebbte und sie ihre Hand herabnahm, stand ein riesiger Mann im Raum. Er überragte sie um ein Beträchtliches und sah mit finsterem Blick auf sie herab.
„Wie lange soll sie ihre kurze Zeit mit diesem Unsinn vertun, Azriel? Ich habe keine Geduld mehr, das sehe ich mir schon zu lange an! Menschen heilen, die sowieso nicht lange auf dieser Welt sind. Razak wird immer mächtiger und trotz seiner Jahre altert er nicht viel. Wir müssen handeln, nicht warten!“, donnerte die tiefe Stimme, die widerhallte, als befänden sie sich in einer Höhle.
„Meine Magaren und die Schatten wollen kämpfen, die Elfen leiden und sie heilt Menschen, während du vor dem Feuer döst!“
Azriel lachte höhnisch: „Du hast lange gebraucht, um den Weg hierher zum Meckern zu finden, alter Mann! Was hast du für Vorschläge?“
„Lehre s ie die Beschwörungen, alte Hexe! Zu dritt können wir Razak zum Straucheln bringen!“
Azriel schüttelte den Kopf, sie schien vor Riannas Augen zu altern.
„Nein, Seros, es tut mir leid. Es ist noch zu früh. Rianna ist nicht diejenige, die die Weissagung erfüllen wird! Sie hat zuviel Leid erlebt, ihr Kampfgeist ist nicht stark genug, um zu herrschen.“
Rianna begriff nun, dass vor ihr der zweite Unbezwingbare stand, der Zauberer Seros, Herr über die Schatten. Rianna hatte Bilder in Azriels Büchern gesehen: Unheimliche, farblose Bilder von Schatten und einem großen Mann. Feuer schien sein ständiger Begleiter zu sein. Sie sah in Azriels müde Augen und erkannte dankbar, dass diese ihre Wesensart verstanden hatte. In ihrem tiefen Inneren nagte jedoch, dass sie als nicht gut genug befunden worden war. Seros schwieg betroffen. Seine Augen schienen sich in ihr Herz zu bohren und das Atmen fiel Rianna schwerer und schwerer. Ihre Hand flog zu ihrem Hals, als bekäme sie dadurch Luft. Azriel sagte scharf: „Lass das sein, Seros, sie kann nichts dafür. Sie ist eine außergewöhnliche Frau, klug und lernwillig, nur Melisins Kampfgeist hat sie nicht mitbekommen. Den hatte wohl Erinas erhalten. Außerdem wird es vielleicht einst ihre Tochter sein, die die Vorhersage erfüllt! Lass sie leben!“
Rianna taumelte durch die Tür hinaus auf den staubigen Platz vor der Hütte und atmete schwer. Der Stich in ihrem Herzen, den sie bei der Nennung ihres Bruders Namen gespürt hatte, schien nicht zu vergehen. Sie sank auf die Knie und begann zu der Göttin Erina zu beten, der Hauptgöttin der alten Erimeter. Um sie herum begann ein immer stärker werdender Sturm zu tosen – er erhob sich durch Seros‘ Wut und dem Streit mit der alten Hexe. Er und Azriel schrien sich an und die Stärke des Tosens schien stetig zuzunehmen.
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