Die Prophezeiungen von Celestine
Platz zu nehmen; mein Gesicht war auf den knorrigen Baum gerichtet.
Er setzte sich neben mich.
»Gefällt Ihnen der Baum?«
»Ja.«
»Dann, äh..., fühlen Sie es...«
Wieder schien er nicht das geeignete Wort zu finden. Einen Augenblick lang dachte er nach und fragte dann: »Pater Sanchez erzählte, daß Sie auf dem Bergkamm ein Erlebnis hatten; können Sie sich an das Gefühl dabei erinnern?«
»Ich fühlte mich leicht und geborgen und meiner Umgebung verbunden.«
»In welcher Weise verbunden?«
»Das ist schwer zu beschreiben«, sagte ich. »Als sei die ganze Landschaft um mich herum zu einem Teil meiner selbst geworden.«
»Aber wie würden Sie das Gefühl beschreiben?«
Ich dachte einen Augenblick nach. Wie sollte ich das Gefühl beschreiben? Dann dämmerte es mir.
»Liebe«, sagte ich. »Man könnte sagen, daß ich Liebe für alles empfunden habe, was mich umgab.«
»Ja«, sagte er. »Genau das ist es. Versuchen Sie dieses Gefühl für den Baum hier zu entwickeln.«
»Einen Moment«, protestierte ich. »Liebe passiert einfach, ich kann mich nicht dazu zwingen, etwas zu lieben.«
»Das brauchen Sie nicht«, sagte er. »Lassen Sie die Liebe einfach zu. Dazu müssen Sie Ihre Gedanken allerdings so bündeln, daß Sie sich an das Gefühl der Liebe erinnern, und versuchen es erneut zu
empfinden.«
Ich betrachtete den Baum und versuchte, mich an meine Gefühle auf dem Bergkamm zu erinnern. Allmählich begann ich die Form und die Ausstrahlung des Baumes zu bewundern. Dieses Gefühl wuchs, bis ich tatsächlich so etwas wie Liebe empfand. Es entsprach exakt dem, was ich als Kind für meine Mutter empfunden hatte und als Jugendlicher für ein bestimmtes Mädchen - eine Form unschuldiger Liebe.
Obwohl ich auf den Baum geschaut hatte, blieb diese Liebe als eine Art emotionaler Hintergrund. Meine Liebe schien immer umfassender zu werden.
Der Priester entfernte sich behutsam und beobachtete mich angestrengt.
»Gut«, sagte er. »Sie akzeptieren den Zugang der Energie.«
Ich bemerkte, daß sein Blick ein wenig unscharf war.
»Woran merken Sie das?« fragte ich.
»Ich kann sehen, daß Ihr Energiefeld zunimmt.«
Ich schloß die Augen und versuchte Zugang zu den intensiven Gefühlen zu bekommen, die ich auf dem Bergkamm empfunden hatte, doch gelang es mir nicht, die Erfahrung zu wiederholen. Die Gefühle waren zwar in gewisser Weise vergleichbar, doch traten sie in einer viel schwächeren Form auf. Der Fehlschlag frustrierte mich.
»Was ist passiert?« fragte er. »Ihre Energie läßt nach.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich bin nicht in der Lage, die Empfindungen in der gleichen Intensität zu erfahren.«
Er betrachtete mich zunächst amüsiert, dann mit zunehmender Ungeduld.
»Was Sie auf dem Bergkamm erlebt haben, war ein Geschenk, ein Durchbruch, ein Blick auf einen neuen Weg. Sie müssen nun lernen, diesen Zustand in kleinen Schritten selbständig herbeizuführen.«
Er entfernte sich noch ein wenig und sah mich wieder an. »Strengen Sie sich ein wenig an.«
Ich schloß die Augen und versuchte Zugang zu einem tieferen Gefühl zu bekommen. Schließlich wurde ich von der Emotion überrollt. Es gelang mir, sie zu halten und ihre Intensität in kleinen Schritten zu steigern. Ich konzentrierte mich dabei völlig auf den Baum.
»Das ist sehr gut«, sagte er plötzlich. »Sie bekommen Energie und geben sie an den Baum weiter.«
Ich sah ihn verständnislos an. »Ich gebe sie an den Baum weiter?«
»In dem Augenblick, in dem Sie die Einzigartig keit und die Schönheit der Dinge erkennen«, erklärte er,
»wird Ihnen Energie zugeführt. Sobald Sie auf die Ebene gelangen, auf der Sie Liebe empfinden, sind Sie auch in der Lage, diese Liebe aus eigenem Antrieb zurückzusenden.«
Lange Zeit verbrachte ich in der Gesellschaft des Baumes. Je mehr ich mich auf den Baum konzentrierte, je mehr ich seine Form und Farbe bewunderte, desto mehr Liebe erfüllte mich. Es war ein
ausgesprochen ungewöhnliches Erlebnis. Ich stellte mir vor, wie meine Liebe überquoll und sich auf den Baum übertrug, doch war ich außerstande, den Vorgang zu beobachten. Ohne den Baum aus den Augen zu lassen, bemerkte ich, wie der Priester aufstand und sich auf den Weg machte.
»Wie genau sieht es aus, wenn ich dem Baum
Energie gebe?« fragte ich.
Detailliert beschrieb er seine Wahrnehmung, und ich erkannte dasselbe Phänomen, dessen Zeuge ich geworden war, als Sarah Energie auf den Philodendron in Viciente projiziert hatte.
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