Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
nachmittags geht er ins Bett und hofft, der Liebstöckel-Brandy wird ihm helfen, bis gegen vier morgen früh zu schlafen. Aber die ganze Sache mit Melanie lässt ihm keine Ruhe, und obwohl er um Viertel nach zwei eindämmert und zur Abwechslung tief und traumlos schläft, ist er vier Stunden später wieder hellwach.
Er bleibt eine Zeitlang liegen und schaut durch das Fenster auf die Landschaft hinaus. Er vermisst Mum. Er vermisst sie sehr. Aber die Natur da draußen spendet ihm einen ganz besonderen Trost. Seine Nachbarn sind die Wildtiere der Umgebung; wenn er die Rehe von Patiences pinkfarbenen Rosen verscheucht, erkennt er jedes einzelne an seiner Zeichnung, seiner Größe, seinen Narben. Die Abgeschiedenheit gefällt ihm. Es gefällt ihm, dass seine Kleider nach Feuer riechen können, ohne dass jemand die Nase rümpft. Hier draußen ist es so abgelegen, dass er sich das Anziehen sparen kann, wenn er mal wirklich müde ist. Er kann dann in langen Unterhosen und Stiefeln herumlaufen wie eine Figur in einem Cowboyfilm.
Er ist nicht einsam. Aber er ist nicht sicher, ob das noch genügt – nur nicht einsam zu sein. Vielleicht bedeutet es, dass die Trauer um Mum in eine neue Phase eingetreten ist. Vielleicht ist er bereit, wieder mit Leuten zusammen zu sein. Vielleicht bedeutet es sogar, er ist bereit, richtig erwachsen zu sein und eine richtig erwachsene Beziehung einzugehen? Im kükenhaften Alter von dreiundvierzig Jahren? Das ist ein sehr, sehr großer Schritt. Leichtfertig wird er ihn nicht tun.
Er schaut auf die Uhr. Sechs Uhr zwanzig. Er gähnt, steht auf, geht ins Bad und duscht. Beim Rasieren fällt sein Blick auf einen Messlöffel, der oben auf der Kante des Medikamentenschränkchens einen lautlosen Balanceakt vollführt. Der Doppellöffel aus Plastik bleibt nur deshalb an seinem Platz, weil er an den klebrigen Überresten eines niemals weggewischten, uralten Hustensirups hängen geblieben ist. Als Pflegedienstleiter hat er die Aufgabe, wöchentliche Berichte über die Hygiene auf den Stationen zu verfassen. Das ist wirklich zum Lachen hier.
Er nimmt einen Müllbeutel und fegt alles hinein. Mit einem Lappen wischt er den kristallisierten grünen Sirup ab. Er wirft leere Paracetamol-Schachteln mit einem Verfallsdatum im Jahr 2009 und einen Karton Q-Tips, den er schon hatte, als er mit zwanzig seinen ersten Job angetreten hat, in den Sack. Was für eine Frau würde so etwas hinnehmen?, denkt er ungeduldig. Wirklich. Was für eine Wahnsinnige würde in diese Bruchbude einziehen? Ganz bestimmt keine reife, vernünftige Frau.
Melanie Arrow wohnt wahrscheinlich in einem von diesen skandinavischen Häusern – makellos weiße Wände und Möbel aus Treibholz und blütenweißes Leinen. Er sieht Reihe um Reihe von vorzüglich geschneiderten Blusen in den Plastikhüllen der Reinigung. Und wenn er ehrlich ist, sieht er auch seidene Schlüpfer.
»Hey«, sagt er zu seinem Spiegelbild, »hier kannst du aufhören. Falscher Weg. Ganz falscher Weg.«
Sein Spiegelbild blinzelt ihn an. Er hält seinem Blick eine ganze Weile stand. Dann legt er eine Hand an den Spiegel. Zum Teufel damit. Er wird jetzt etwas unternehmen.
Die Wahrheit über Misty Kitson
Acht Stunden hat die Suche nach Misty Kitsons Leiche gedauert, und Flea Marleys Tauchereinheit, die bei jedem Einsatz dabei ist, ob an Land oder im Wasser, hat schwer gearbeitet. Man hat ihnen einen hundert Meter breiten Streifen rings um den Bereich zugewiesen, der letztes Jahr abgesucht wurde, als Misty spurlos verschwand. Diese Suche erweitert den ursprünglichen Zwei-Meilen-Radius um die Rehaklinik, einem strengen, weißen palladianischen Gebäude hoch auf einer Anhöhe. Sie wird eine volle Woche dauern, und soweit die Beteiligten es übersehen können, ist sie nicht durch neue Erkenntnisse begründet, sondern durch das dringende Bedürfnis des MCIT , der Presse zu zeigen, dass immer noch etwas unternommen wird. Bis zum Nachmittag hat das Team nichts gefunden, und das Licht lässt nach. Mit ihrem weißen Mercedes-Sprinter-Van fahren sie zurück ins Büro, und die Stimmung ist schlecht. Ein paar der Männer springen sofort in ihren Wagen und fahren nach Hause, andere nehmen sich noch Zeit, um sich ein wenig aufzuwärmen – Tee zu kochen und zu duschen –, und lassen sich vom heißen Wasser die Kälte aus den Knochen spülen.
Flea ist als Letzte noch im Gebäude. Sie steht mit geschlossenen Augen unter der Dusche, lässt sich das Wasser in den Nacken prasseln und denkt
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