Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Morden, Vergewaltigungen, misshandelten Frauen, von Eifersucht und Fahrerflucht.
Ja, Fahrerflucht. Kein Mensch denkt je an die vielen Fälle von Fahrerflucht.
Die Straße nimmt unvermittelt eine Linkskurve und erstreckt sich dann in einer geraden Linie, flach und stumpf, bis sie hundert Meter weiter im Dunkel der Nacht verschwindet. Über den Wolken steht der Vollmond und spendet ein diffuses Licht, das ihr genügt, um sich zurechtzufinden. Sie macht gleichmäßige Schritte und zählt sie im Kopf. Nach fünfzig Metern bleibt sie stehen und wendet sich dem Feld zu, und mit ihrem rasiermesserscharfen Wissen lässt sie den Blick darüber hinwegwandern. Dann dreht sie sich zu dem Dörfchen um und betrachtet es ebenfalls. Ihre Position stimmt nicht ganz. Sie geht ein paar Schritte weiter und wiederholt die Übung. Diesmal stimmen die Koordinaten. Yep. Hier ist es passiert.
Sie lässt den Rucksack auf den Boden gleiten und knipst die Stirnlampe an. Sie muss sie nach unten richten, um den Asphalt zu beleuchten. Die Stelle muss bis ins kleinste Detail untersucht werden. Sie muss Dinge entfernen, bevor das Team vorbeikommt. Die geringste Nachlässigkeit, und sie sitzt tief in der Scheiße. Wenn sie die Hälfte der Hecke in ihren Rucksack stopfen muss, wird sie es tun. Hier darf nichts zurückbleiben – nicht das Geringste –, was diese Stelle mit dem in Verbindung bringen könnte, was wirklich mit Misty Kitson passiert ist.
Sie zieht die Einmalhandschuhe an und macht sich an die Arbeit. Was sie hier zu tun hat, unterscheidet sich nicht von anderen detaillierten Durchkämmungsaktionen, die sie schon veranstaltet hat: Sie arbeitet ein regelmäßiges Gitterraster ab, um sicherzustellen, dass sie jeden Quadratzoll der Straße abtastet. Alles, was sie findet, sammelt sie ein – ganz gleich, was es ist – und steckt es in den Rucksack. Eine Chipstüte, zwei Bierdosen, ein Stück Toilettenpapier. Ein Aufreißring, der aussieht, als wäre er fünfzig Jahre alt, und eine alte CD . Vielleicht ist nichts von all dem von Bedeutung, vielleicht alles.
Als sie hundertprozentig sicher ist, dass hier nichts mehr ist außer welkem Laub und kahlem Brombeergestrüpp, zieht sie die Lampe vom Kopf und inspiziert die Straßendecke – den Asphalt. Die Bremsspuren sind noch da, aber sehr, sehr schwach. Sie muss in die Hocke gehen und den Boden mit der Hand berühren, um sicher zu sein, dass sie existieren. Vor anderthalb Jahren zogen sie sich wie eine tiefe Narbe über die Straße, aber Regen, Sonne und englische Jahreszeiten haben die Gummistreifen in fast achtzehn Monaten fast wegradiert.
Das Geräusch eines Autos nähert sich aus der Ferne. Nach ein paar Sekunden kommt Scheinwerferlicht aus der Richtung, wo sie ihren Wagen abgestellt hat. Sie steht auf, tritt rasch auf das Bankett und knipst die Stirnlampe aus. Als der Wagen um die Kurve biegt, drückt sie sich fest an einen Baumstamm, schiebt die Hände in die Taschen und senkt das Gesicht, um möglichst wenige reflektierende Flächen zu präsentieren.
Der Wagen fährt vorbei. Bremst beinahe sofort und bleibt nur fünfzig Meter weiter stehen. Ihr Herzschlag setzt aus. Der Motor wird abgestellt, und in der plötzlichen Stille hört sie das Klicken einer Autotür. Dann Schritte.
Kies knirscht. Wer immer das ist, er ist ganz nah. Langsam, lautlos, dreht sie sich nach hinten ins Dunkel. Ihre Schultern sind angespannt. Sie rutscht am Baumstamm herunter, bis sie sitzt, und zieht die Kapuze ihrer Jacke über das Gesicht. Wie ein Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Absolut regungslos sitzt sie da und lauscht auf die Schritte. Nur sie und der schwere Trommelklang ihres Herzens in ihren Ohren. Grünliche Lichtfunken, ein Nachglanz des Scheinwerferlichts, tanzen hinter ihren Augen. Es gibt keinen Grund, weshalb hier mitten im Nirgendwo jemand anhalten sollte. Überhaupt keinen Grund. Das hier ist Niemandsland.
Das Geräusch bricht ab, und sie wagt einen kurzen Seitenblick. Ungefähr einen Meter weit neben ihr stehen zwei Füße in Wanderstiefeln. Die Echsenregion ihres Gehirns wieselt zu ihnen hinüber – sie kennt sie, begreift aber noch nicht, warum sie hier sind und was das alles zu bedeuten hat.
Sie hebt den Blick. DI Jack Caffery steht vor ihr. Er trägt schwarze Allwetterkleidung, hat die Hände in den Taschen vergraben und schaut auf sie herunter.
High Street
AJ muss zehn Minuten warten, und er kommt sich vor wie ein Stalker oder ein nervöser Teenager vor dem Tor der
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