Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
etwas Lebendiges gelegen. Aber das ist Wunschdenken. Ihr Geisterhund.
Wieder sieht sie, wie zerlumpt der Quilt ist. Da fehlt ein Stück, entdeckt sie – ein Stück Stoff von einem Kleid, das sie mal hatte. Sie erinnert sich gut daran: ein violettes Blumenmuster mit ineinander verflochtenen Blättern. Glockenärmel und ein asymmetrischer Saum. An dem Stück haben sich irgendwann die Nähte aufgelöst. Das erinnert sie an einen Jungen – einen Jungen, den sie vor vielen Jahren kannte. Er stahl winzige Fetzen von den Kleidern anderer Leute: einen Schnipsel von einer Bluse hier, einen Faden von einem Mantel dort. Der arme Junge. Der arme kranke Junge. So gefährlich und so traurig. Penny lässt den Quilt sinken und steht auf. Sie hat keine Zeit für Selbstmitleid – keine Zeit zum Klagen und Jammern, für Tränen und Reue. Dies ist für sie die arbeitsreichste Zeit des Jahres, und nachdem sie Suki zwei Tage gepflegt hat, hat die Arbeit sich aufgestaut.
Sie stößt die Fensterläden auf, duscht schnell, zieht sich an und tappt die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Hier unten betreibt sie ihre Firma »Forager’s Fayre«, die schon vor der Scheidung in Gang gekommen ist, vor der Affäre mit Graham. Am hinteren Ende stehen zwei große Industriekocher, und auf den Regalen vor den Backsteinwänden steht das Werkzeug ihres Gewerbes. Marmeladengläser, Chutney-Gläser, Kartons mit Etiketten, Aktenordner mit den Daten ihrer Kunden. Die Mühle wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts gebaut, als die Gegend hier durch die Wollindustrie zu blühendem Wohlstand gelangte. Ein komplettes weiteres Untergeschoss ist nie modernisiert worden. Der Bach, der da unten hindurchfließt, wurde gebändigt und betrieb die Mühle zum Waschen der Vliese. Sie könnte ihren Betrieb dorthin vergrößern, aber »Forager’s Fayre« hat hier in diesem Raum seinen behaglichen Trott gefunden. Sie hat nicht die Energie, die Produktion zu vergrößern.
Ihr Frühstück besteht aus einem Stück Brot, das sie in den abgekühlten, gelierten Schaum tunkt, den sie oben von den Marmeladenbottichen abschöpft. Den werfen die meisten Leute weg, doch sie verwahrt ihn in kleinen Steingutschüsseln im Kühlschrank. In diesem Hause wird nichts weggeworfen.
Sie geht in den Lagerraum. Vor drei Tagen hat sie zwanzig Kilo Mispeln geliefert bekommen. Sie sind schon überreif, aber heute Morgen müssen sie noch einmal gewendet werden, damit sie ganz durchfaulen und zu Marmelade verarbeitet werden können. Dann müssen zwei Dutzend Abtropftücher ausgekocht und Etiketten gedruckt werden. Lust hat sie nicht – nicht ohne Suki, die ihr Gesellschaft leistet. Trotzdem bindet sie sich die Schürze um, zieht sich eine Mütze über das Haar und macht sich an die Arbeit.
Die Tücher sind der Auslöser für die Erinnerung. Sie hat sie ausgekocht und hängt sie eben im Trockenraum auf, als die Erinnerung an das, was auf der Upton Farm passiert ist, mit solcher Macht zurückkommt, dass ihre Knie weich werden. Es hat etwas mit dem Geruch zu tun, mit der ausgeprägten Ingwerwein-Farbe der Tücher. Jetzt wird ihr klar, dass sie genau dies auch an jenem Morgen vor fünfzehn Jahren getan hat. Die Mispeln sind früh reif in diesem Jahr, genau wie damals, und an jenem Tag lagen sie zum Durchreifen im Trockenraum, genau wie jetzt. Und die Musselin-Abtropftücher waren zum Trocknen aufgehängt. Der fleckige Baumwollstoff und der Hauch von Eisengeruch, das ist es, was ihr zusetzt. Wie von getrocknetem Blut.
Sie muss zurück in die Küche. Starr vor Schrecken bleibt sie dort stehen und sieht, wie ähnlich das alles ist: die Gläserstapel, die Deckel, die runden Wachspapierblätter, die bereitliegen, bis es Zeit ist, sie auf die Oberfläche der Marmelade im Glas zu legen. In der Stiefelkammer sieht sie den dampfenden Brei der Kerne, der dort darauf wartet, dass sie ihn auf den Kompost bringt. In der Luft hängt der gleiche Geruch nach Zucker und brodelndem Sirup.
Auf einem Bord weiter hinten, zwischen den Stapeln von »Penny’s Weihnachts-Chutney« und dem »Vergessenen Holzapfel-Gelee aus Four Lane« liegt ein Kalender. Sie hat ihn an einem kalten Dezemberwochenende selbst gemacht, als sie keine Aufträge bearbeiten, niemanden treffen musste und auch sonst nichts Besseres zu tun hatte. Sorgfältig hat sie das Deckblatt mit den Farben dieses Monats bemalt, und mit einer alten Kalligraphiefeder hat sie die Wochentage eingetragen. Jetzt geht sie hin und runzelt die Stirn. Es ist Oktober.
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