Die Puppenspieler
Mordlust. Seine Mutter!
Kein Wunder, daß der korpulente Bruder ihm in den letzten Tagen ausgewichen war, wo er nur konnte. Er hatte sogar eine Geschichtsstunde ausfallen lassen, angeblich aus Krankheitsgründen. O ja, er war ganz offensichtlich zu beschäftigt gewesen, um zu unterrichten. Damit beschäftigt, seine Mutter anzuzeigen …
»Was wird nun geschehen?« fragte Zobeida mit gerunzelter Stirn. Richard überlegte fieberhaft. Kirchliches Recht war schon immer ein schwacher Punkt bei ihm gewesen, und Hexen hatten ihn auch nie interessiert. Überdies unterstanden Hexen, genau wie Ketzer, auch der weltlichen Gerichtsbarkeit, da die Kirche keine Todesstrafe – die zwar bestimmt nicht in diesem Fall notwendig war – verhängen konnte, so daß sich beide Rechtssysteme vermengten und man nie sicher sein konnte, welches Gesetz nun Anwendung fand.
»Vielleicht belassen sie es bei dieser Vorladung«, sagte er ohne viel Überzeugungskraft.
Er war fast sicher, daß die Angelegenheit noch nicht ihren Abschluß gefunden hatte. Andererseits genügte das, was gegen seine Mutter vorgebracht worden war, sicher noch nicht einmal, um sie für ein paar Jahre ins Gefängnis zu bringen, das wußte sogar er. Daß Gefahr für ihr Leben bestehen könnte, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.
Etwas ehrlicher fügte er hinzu: »Wahrscheinlich werden sie Euch noch ein paarmal verhören, Mama. So wie der Inquisitor gepredigt hat, könnte das ziemlich unangenehm werden. Aber macht Euch keine Sorgen. Ich beschütze Euch.«
Zobeida blickte auf ihren zwölfjährigen Sohn und unterdrückte mühsam den Drang, der Anspannung der letzten Stunden in einem hysterischen Gelächter Luft zu verschaffen. Doch sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihn zu verletzen.
»Überhaupt«, sagte Richard jetzt, »alle Leute in der Stadt wissen, was für eine gute Frau Ihr seid. Und wenn der Pfaffe zu gemein zu Euch wird, verlassen wir Wandlingen einfach. Es gibt schließlich noch andere Klosterschulen, und mir wird schon schlecht, wenn ich nur an Bruder Ludwig denke. Oder wir könnten jetzt schon unsere große Reise beginnen, Mama!« Zobeida lächelte schwach.
»Und was wird dann aus dem zukünftigen Studiosus? Glaubst du, du weißt schon genug für eine Universität, mein Sohn?«
»Nein, aber«, Richard zog eine Grimasse, »genug weiß man eigentlich nie. Soll ich Euch sagen, was der berühmteste Ausspruch des großen Philosophen Sokrates ist? ›Ich weiß, daß ich nichts weiß!‹« Er zwinkerte ihr zu. »Und dazu der wichtigste Ausspruch des großen Reisenden Richard Artzt: Ich weiß, daß ich noch viel wissen will!«
So versuchten sie, den Rest des Tages wie sonst auch zu verbringen, mit Scherzen und Erzählungen, und Zobeida neckte ihren Sohn damit, daß er trotz ihres Vorbilds nur die notwendigsten Begriffe von der Heilkunst gelernt habe, keine wirklichen Geheimnisse, doch weder sie noch Richard konnten völlig den Schatten aus ihrem Bewußtsein verdrängen, den Schatten, der sich so plötzlich über ihr Leben gelegt hatte.
Richard nahm sich vor, am Montag zum Abt zu gehen und ihm von den Machenschaften Bruder Ludwigs zu berichten. Der Abt war doch sicher mächtig genug, um die ganze Angelegenheit aufzuklären, dem Inquisitor zu sagen, daß er sich geirrt hatte, oder?
Es war an der Zeit, alle Lichter zu löschen und schlafen zu gehen, doch die Unruhe in ihrem Herzen und jene unbestimmte nagende Furcht ließen sie den Moment immer weiter hinausschieben. Ihre Furcht war ihr selbst unheimlich, weil sie sich auf nichts Bestimmtes, keine gewisse Zukunft richtete, und plötzlich entschied sie, Richard in dieser Nacht bei sich schlafen zu lassen.
Er hatte das nicht mehr getan, seit er ein kleiner Junge gewesen war, doch heute würde es ihnen beiden helfen, nicht allein zu sein und dieses graue Etwas von Angst und Beunruhigung zu überstehen. Morgen, morgen würde alles ganz anders aussehen. Richard hatte recht, sie konnten Wandlingen jederzeit verlassen, wenngleich sie die Stadt, in der sie mit ihrem Sohn so glücklich gewesen war, vermissen würde.
Vorerst galt es allerdings, diese kommende Nacht zu überstehen. Es war ungewöhnlich warm für April, und Richard drehte sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Er fühlte sich müde und doch zu wach, um zu schlafen, und in jenem dämmrigen Zustand kamen ihm Erinnerungsfetzen der letzten Zeit zugeflogen: Bruder Ludwig vor dem Abt, seine Mutter, die mit ihm am Flußufer nach Fröschen
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