Die Qualen der Sophora
nur Nicos Verzweiflung nicht
nachvollziehen können? Sie wusste doch, was es hieß, fern von der Familie zu
leben, ohne jegliche Unterstützung von den Menschen, die einen doch lieben
sollten. Sie hatte ihr Elternhaus zurücklassen müssen und monatelang deswegen
bittere Tränen vergossen und dabei wollten sie nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Wie schwer musste es Nico gefallen sein, ihren Vater zurückzulassen, der sie
von Herzen liebte? Und dabei war sie nicht einmal sein Fleisch und Blut.
„Lebst du noch?“, flüsterte Cat mit vom Weinen
belegter Stimme und starrte blind in den Himmel hinauf, wo das jungenhafte
Gesicht ihres Bruders auftauchte, bis es sich verzerrte und von der Morgenröte
verfärbt wurde, so dass es beinahe wieder so aussah wie in der Nacht vor zwölf
Jahren.
Und noch viel wichtiger war die Frage… Hasst du mich so sehr wie die
anderen?
„Sicher. Es ist noch nicht einmal Vollmond. Wenn ich
jetzt schon klein bei geben würde, wäre ich wohl kaum der geeignete Mann für
dich.“ Nathan trat verschmitzt grinsend hinter Catalina auf den Balkon und
legte seine Hände direkt neben ihre auf der steinernen Brüstung ab. Im
Gegensatz zu seinen waren ihre gerade zu winzig und makellos. Kinderhände. Er
wollte lieber nicht darüber nachdenken, dass er vom Alter her ihr Urururopa
sein konnte und nicht ihr Soulmate.
Sein Hemd, das sie trug, war von der linken Schulter gerutscht. Zärtlich küsste
er die nackte, abgekühlte Haut und schlang dann die Arme um sie, um sie mit
seinem ebenfalls halbnackten Körper zu wärmen, da sie fröstelte. Sie hatte ihm
ja gütigerweise die Hose gelassen.
Er hatte gemerkt, dass sie das Bett verließ, dachte
aber sie würde ins Bad gehen, statt auf den Balkon, um den neuen Tag zu
begrüßen. Nein, begrüßen war die falsche Formulierung. Sie war dafür, dass sie
in der Nacht noch die Verbindung seiner Tochter gefeiert und sich anschließend
ziemlich heftig geliebt hatten, viel zu traurig. Er sah die Tränen in ihren
Augen glänzen. Man musste ihr nicht unbedingt nahe stehen, um zu bemerken, dass
etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Du hast nicht mich gemeint, stimmt’s?“ Die Frage, ob er
oder jemand noch lebte.
Nathan drückte sie ein wenig fester an sich, um ihr Halt zu geben und
gleichzeitig daran zu hindern, vor ihm zu fliehen und ihm weismachen zu wollen,
dass eigentlich alles bestens war.
„Woran hast du gedacht, als du vorhin in die Wolken
geschaut hast, Catalina?“, fragte er leise.
Schon mit der Absicht in der Stimme, sie ein klein wenig zu bedrängen, weil sie
bei ihrer Vergangenheit sicher nicht so einfach plappern würde wie ein
Wasserfall. Genauso wenig wie er. Darum war es so wichtig miteinander zu
sprechen, statt sich anzuschweigen und die Dinge auf sich beruhen zu lassen.
Manchmal musste man sich eben dazu zwingen oder gezwungen werden.
„Denkst du an Nico? Damon wird sicher nach ihr suchen,
sobald er dazu in der Lage ist, aufrecht zu stehen. Das kann nicht mehr lange
dauern. Ich bin sicher, er wird sie finden und alles wird wieder gut. Gib dir
nicht die Schuld, falls es das ist, woran du denkst. Wir haben uns dagegen
entschieden, uns einzumischen und irgendwann wird es uns nicht mehr wie ein
Verrat vorkommen.“
Ja, so fühlte er sich. Ein bisschen wie ein Verräter.
Er hätte Nico warnen, statt ins offene Messer laufen lassen sollen, was Damon
betraf. Die kleine Sophora war so sensibel und nicht annähernd mit Damons
Gemütsschwankungen fertig geworden. Sie liebte ihn, aber bevor Damon dies
begriff, hatte man ihn zuerst niederstechen müssen. Das war schon ein grausames
Schicksal, das ihm da widerfahren war. Allerdings eines, das weder er noch
irgendjemand sonst hätte aufhalten können.
„Er wird seine Fehler wieder gut machen. Immerhin ist
er einer von uns. So viel Grausamkeit kann in ihm nicht gesteckt haben. Ich
denke, er hatte einfach Angst, seine möglicherweise ebenfalls tiefen Gefühle
für die Sophora einzugestehen.“
Cat war nicht ein bisschen erleichtert bei seinen
Worten. Sie stand einfach nur da, starrte über die steinerne Brüstung hinaus
auf das Anwesen und auf den Himmel, ließ zwar zu, dass er sie umarmte, deutete
aber mit keiner Geste an, ob es ihr gefiel oder ob er sie lieber frei geben
sollte. Bezüglich Nico hatte er einfach ins Blaue getippt und lag wohl daneben.
„Hast du schlecht geträumt?“
Noch eine Frage. Eine von vielen, die er bereits gestellt hatte. Nathan würde
noch viel mehr stellen, wenn es
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