Die Qualen der Sophora
sie Angst davor, ein weiteres Mal verletzt zu werden. Ash war
mindestens dreimal so stark wie Winston, doppelt so breit und was den Rest
seiner körperlichen Attribute anging, ungleich gegenüber dem Toten im Vorteil.
Die Patronas hatten damals alles zu heilen vermocht. Alles, bis auf Awendelas
Gesicht und ihre geschundene Seele. Wenn sie also mit Ash schlief, würde es
wieder so sein wie beim ersten Mal und trotz aller Gefühle, die sie für ihn
hatte, etwas, das sie insgeheim mal mehr, mal weniger fürchtete.
Vielleicht war sie doch
nicht die Richtige für ihn. Hundert Jahre waren eine lange Zeit, sich gewisse
Dinge zu überlegen. Bisher hatten sie nicht von Liebe gesprochen. Sie wussten
nur, dass sie einander um jeden Preis beschützen würden, da das Schicksal es so
bestimmt hatte.
Unbewusst suchte sie den Horizont mit den Augen ab, als er den Mond erwähnte,
der tatsächlich nirgends mehr zu sehen war. Das war vermutlich mit ein Grund,
weswegen sie sich mit einem Mal unzulänglich und unsicher fühlte. Für diesen
Moment waren sie tatsächlich nur noch Wendy und Ash. Die Tiere in ihrem Inneren
hatten sich zurückgezogen und würden frühestens am nächsten Abend
hervorkriechen, wenn die Mondstrahlen erneut vom Himmel schienen und sie
verrückt zu machen gedachten.
Ash lächelte, ihr war
mehr zum Weinen zumute. An den Händen haltend standen sie einander gegenüber
und das romantische Gefühl war in Awendela schlagartig passé, obwohl es in
einem atemberaubenden Licht zu dämmern begann. Als Immaculate mit besonderen
Fähigkeiten nahmen sie ihre Umwelt anders als die Menschen war. Für diese war
es noch dunkel, doch sie konnten bereits den neuen Tag begrüßen, als wäre es
ihr erster und letzter zugleich. Als Tri’Ora hatte sie oft dem Sonnenaufgang
zugesehen. Sie liebte das Spiel der Farben am Horizont, die ihren
unvergleichlichen Augen so ähnlich waren und fühlte sich darin geborgen wie
nirgendwo sonst. Außer bei Ash. Sie würde wohl niemals die richtigen Worte
finden können, um ihm zu sagen, was sie für ihn empfand. Ihr Herz schlug nur
für ihn und es tat weh.
Wendy ließ ihn reden.
Es war, als würden ihre geheimsten Sehnsüchte und ihre schlimmsten
Befürchtungen zugleich wahr werden. Natürlich war er ein Krieger. Natürlich
wollte er eine Frau an seiner Seite, die gut genug für ihn war und nicht von
Unsicherheiten geplagt wurde. Das war nur zu verständlich. Da las sie mehr als
er zwischen den Zeilen.
Noch mochte es ihm leicht fallen, auf sie zu warten, aber Wendy fragte sich
ernsthaft, wie lange das gut gehen würde. Er hatte ja Recht. Sie war zu zögernd
und irgendwie musste sich das ändern. Bald. Sie sollte besser nicht noch einen
Vollmond warten, um zu ihm zu kommen. Sie waren füreinander bestimmt. Es würde
nichts Schlimmes passieren. Sie musste keine Angst haben. Aber ihr Magen schlug
weiterhin Kapriolen und das Blut rauschte in ihren Ohren, weil ihr Puls vor
innerer Anspannung raste.
Ash hob Wendys linke
Hand an seine Lippen und berührte ihren Handrücken kurz damit, ohne sie aus den
Augen zu lassen.
„Awendela… Würdest du mir die Ehre erweisen, dich mit mir am Sonntag im Castle
Harpyja zu verbinden? Ich würde diese Verbindung, die unsere Seelen schon vor
langer Zeit eingegangen sind, gerne im Angesicht aller Menschen besiegeln, die
uns etwas bedeuten.!“
Immerhin ging es hier
um die Verbindung zweier Krieger, da musste das Orakel persönlich die Reverentia
matrii* ausführen, so dass sich ihnen nun der perfekte Zeitpunkt geboten
hatte. Am Sonntag würden sie alle versammelt sein. Aber er hätte sie auch
gefragt, wenn dem nicht so wäre. Er wollte auch, dass der Fluch, der solange
auf ihnen gelastet hatte, mit dem Segen des Orakels und ihres Vaters endlich von
ihnen wich. Sie verdiente ein Leben im Licht und nicht in den Schatten der
Vergangenheit. Ihr Wohl stand über allem und das würde für ihn immer so
bleiben.
(*Verbindungszeremonie der Immaculate)
Beinahe hätte Wendy die
kleine Wendung in seiner Ansprache überhört, die sie überrascht aufhorchen und
mit weit aufgerissenen Augen zu ihm aufsehen ließ.
Ein Antrag?!
Tränen des Glücks
schossen ihr in die Augen und sie klammerte sich haltsuchend an seine Hände,
die sie festhielten und verhinderten, vor Fassungslosigkeit zu Boden zu gehen.
„Wirklich?“, flüsterte
sie atemlos und wusste dabei ganz genau, dass er nicht der Typ Mann war, der
eine solche Frage nicht ernst gemeint in den Raum stellte. Zitternd
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