Die Quelle
Schulamit, denn wie allen Juden bedeutete ihr dieser Bau sehr viel.
»Lange Zeit habe ich gefürchtet, daß Rom den Tempel wird zerstören müssen, früher oder später.«
»Aber warum?«
»Weil das kaiserliche Rom und der Tempel nicht gemeinsam im selben Reich bestehen können.«
»Timon, du redest irre wie der König. Rom ist eine Sache für sich. Es liegt jenseits des Meeres und ist sehr mächtig. Aber der Tempel, der besteht in einer anderen Welt. Er wird nie vergehen.«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte ich. »Warum bist du jetzt anderer Meinung als früher?«
»Du warst nicht in Jerusalem, als die Schriftgelehrten ihre Schüler dazu brachten, den vergoldeten Adler herunterzureißen.«
»Du hast mir davon erzählt«, antwortete meine Frau, und ihre Augen glühten, als sie an diese kühne Tat dachte.
»Du erinnerst dich daran, daß er heruntergeholt wurde«, sagte ich, »ich aber denke an die Männer, die man lebendig verbrannt hat. Fünf Pfähle stellten wir vor dem Tempel auf, und auf die Steinplatten wurden riesige Haufen von Reisig geschichtet. Darauf mußten die Verurteilten stehen. Herodes’ Söldner. stets zu solchen Untaten bereit. entzündeten die Feuer, und wir waren auf die Schreie der Verbrennenden gefaßt.«
»Was geschah?«
»Die Feuer brannten ungleichmäßig. Jeder der fünf, die man da lebendig verbrannte, rief, wenn die Flammen über sein Gesicht leckten, mit seinem letzten Atemzug: >Höre, Israel, der HErr, unser Gott, ist der Einzige Gott.<«
»Was sonst könnte ein Mensch in einem solchen Augenblick sagen?« Ich sah Schulamit an. Nach einem langen Leben engsten Zusammenseins mit ihr wurde mir klar, daß ich sie immer noch kaum verstand. Sie mußte meine Gedanken erraten haben, denn sie sagte ruhig: »Morgen oder
übermorgen, wenn der Bote gekommen ist und die Söldner nahen, um uns zu töten, wirst du an Rom denken und an Augustus und an all die Bauten, die du geschaffen hast. Vielleicht wirfst du sogar einen Blick auf die Augusteana dort drüben. Und ein herrliches Licht wird verlöschen. Timon, ich habe dich so geliebt. Du warst so tapfer, so standhaft.« Sie weinte. Ströme von Tränen rannen aus ihren Augen. Als sie in ihren Schoß fielen, nahm sie eines der Duftfläschchen und wischte mit seinem Rand die Tränen fort, so daß ein paar in die Phiole rannen. Sie lächelte: »Gemeinsam haben wir den Duft unseres Lebens gemischt, aus Rosen und Tränen und dem Wohlgeruch der Olivenhaine im Frühling. Diesen Duft habe ich eingesogen seit dem ersten Tag, an dem wir uns begegnet sind.«
Sie stellte das Fläschchen auf das Brett. Jetzt nahm sie den Gedanken wieder auf, den sie mit ihren Tränen unterbrochen hatte. »Wenn wir sterben, wirst du auf die Bauten dieser Welt blicken. Ich aber will flüstern: >Höre, Israel, der HErr, unser Gott, ist der Einzige Gott.< Auch mit all seinen Söldnern, mit all seinen Flammen wird Herodes diesen Ruf niemals ersticken können.«
»Deshalb habe ich ja gesagt, daß sie den Tempel zerstören werden. Rom hat euch die Teilnahme an der Welt angeboten. Aber in eurem störrischen Stolz habt ihr die Welt von euch gewiesen und euch an euren Tempel geklammert.«
»Muß er untergehen?« rief sie. So leidenschaftlich hatten wir uns in unsere Gedanken verrannt, daß ich es für besser hielt, sie mit ihren Fläschchen alleinzulassen. Ich ging an das Tor des Tempels, wo die Wachen auf den Befehl warteten, uns zu erschlagen.
Zwei waren Ägypter und zwei aus Germanien. Ich fragte sie, wie sie zu dem Dienst bei Herodes gekommen seien. Die Ägypter waren ihm von Caesar Augustus zugeteilt worden, als er Kleopatras Reich vernichtete; die Germanen hatte man als Sklaven nach Judaea gebracht. »Wie viele Juden habt ihr schon erschlagen?« fragte ich die vier. Sie zuckten die Achseln. »Wir tun, was uns befohlen wird.«
»Wie viele also?« fragte ich beharrlich. »Wir haben mit keinem äußeren Feind Krieg geführt. Also seid ihr nur dauernd gegen die Juden geschickt worden. Wie viele schätzt ihr?« Darauf begannen sie ihre Einsätze in Jerusalem aufzuzählen, wenn es dort Unruhen gegeben hatte, und Samaria, und das Durcheinander in Gaza. Zahl kam zu Zahl. Diese vier zufällig hier Wache stehenden Söldner, zu verschiedenen Zeiten in verschiedene Gegenden befohlen, hatten mehr als tausend Juden erschlagen.
»Wenn ihr den Befehl bekommt, meine Frau und mich zu töten. werdet ihr da nicht fragen, warum?«
»Befehl ist Befehl«, antwortete der eine Germane.
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