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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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hatte, voll Staunen Reihe auf Reihe unbewaffneter Männer und Frauen. Wie Geister zogen sie heran durch das kühle Licht der Frühe, die Augen auf ein fernes Ziel gerichtet; unaufhörlich schritten ihre Füße vorwärts. Volkmar ließ seine Blicke an dem regellos sich dahinwälzenden Zug entlanggleiten, bis dorthin, wo er sich im Staub verlor. »Wie viele?« fragte er den Priester. »In Köln schätzen sie zwanzigtausend.«
    »Ich sehe keine Waffen! Keine Ritter!«
    »Sie wollen keine. Sie sagen, daß sie mit Gottes Hilfe siegen werden.« Volkmar stand schweigend angesichts dieses sonderbaren Heeres, das hier marschiert kam wie noch kein anderes in der Geschichte des Landes am Rhein. Männer und Frauen tauchten aus Dunst und Staub auf, zogen still vorüber, und andere nahmen ihren Platz ein. Manchmal änderte sich das Bild, wenn eine Wagengruppe daherkam, von Männern oder elenden Pferden gezogen, jedes Gefährt voll beladen mit Kleidersäcken oder Verpflegung. Auf manchen saßen kleine Kinder oder alte Frauen, während dahinter Kinder liefen, die sich sehr von den lebhaften Kleinen an der Spitze unterschieden. Die hier waren müde, mußten schon viele Tage unterwegs sein, man sah ihnen an, daß sie nichts mehr von fröhlichem Dahinrennen oder Spielen wissen wollten.
    »Sind diese Kinder.«, Graf Volkmar wußte nicht, wie er den Satz beenden sollte.
    »Das sind die Kinder, die dazugehören«, erklärte Wezel. »Sie sehen verhungert aus.«
    »Sie sind hungrig.«
    Der Graf faßte einen schnellen Entschluß. »Wezel, wenn sie die Stadt betreten, sorge dafür, daß die Kinder zu essen bekommen.«
    »Sie halten hier nicht, Herr«, sagte der Priester. Volkmar sah zur Spitze des Zuges hinüber. Ja, sie bewegten sich weiter. Die Stadttore waren geschlossen; schweigend zog die Menge auf Mainz zu.
    »Laß sie halten!« befahl der Graf und stürzte zurück in die Burg, um seine Frau und die Kinder zu wecken, damit sie den wahrhaft erstaunlichen Anblick nicht versäumten.
    Wezel, ein magerer Mann von fast sechzig Jahren, eilte durch die Stadt und rief den Wächtern zu, sie sollten das Stadttor öffnen. Die riesigen eisernen Angeln knirschten, die Holzflügel gingen auseinander. Sofort begab sich der Priester mitten unter die Menge und winkte mit den Armen. Die an der Spitze achteten nicht auf ihn und schritten weiter; erst die Menschen in der Mitte des Zuges sahen ihn und blieben stehen. In diesem Augenblick kamen Graf Volkmar und seine Frau, begleitet von ihrem Sohn und ihrer Tochter, beides Halbwüchsige, durch das Tor. Sie trugen die feine Tracht der Städter. Mit lauter Stimme verkündete Volkmar: »Alle Kinder sollen zu essen bekommen.« Die Menge jubelte, die Mütter begannen doppelt so viele Kinder nach vorn zu schieben, als Volkmar erwartet hatte, bis sich mehr als tausend um das Stadttor von Gretsch drängten. Mathilda, die hübsche Frau des Grafen, war von den hungrigen kleinen Gesichtern erschüttert und beugte sich zu ein paar älteren Mädchen nieder, um mit ihnen zu reden. Aber sie sprachen kein Deutsch. »Können wir so viele überhaupt versorgen?« fragte der Burgkaplan. »Gib ihnen zu essen«, antwortete der Graf kurz. Überall in der Stadt wurden die Bürger aufgerufen, so viel Nahrung herauszubringen, wie in der kurzen Zeit nur aufzutreiben war. Volkmar versuchte, mit ein paar kleineren Kindern zu sprechen, aber auch er mußte erleben, daß sie kein Deutsch verstanden. Als er niederkniete, um einen Jungen zu fragen, sah er zum erstenmal zwei grobgeschnittene rote Stoffstreifen in Form eines Kreuzes an der Schulter des Kinderhemdes aufgenäht. Er deutete auf das Zeichen und fragte Wezel: »Ist es das?«
    »Ja«, antwortete der Priester. Volkmar sah auf: Fast alle in der Menge, die sich um ihn scharte, trugen das gleiche Zeichen
    - die meisten ein kleines Kreuz aus Tuchstreifen verschiedenster Farben. Es war sehr beeindruckend, dieses Kreuz, bei so vielen Menschen.
    Graf Volkmar wollte gerade einen Mann und dessen Frau nach dem Zeichen befragen, als man hinten Rufe hörte. Die bunt zusammengewürfelte Menge bildete eine Gasse - es kam offenbar jemand, den alle kannten. Da war er, ein kleiner knochiger Priester; barfuß saß er auf einem grauen Esel. Auffallend waren sein durchdringender Blick und die eingefallenen Wangen unter dem glanzlosen Haar. Er trug ein schmutziges schwarzes Gewand, darüber einen braunen ärmellosen Chorrock, der mit einem flammend roten Kreuz gezeichnet war. Der Priester erkannte sofort,

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