Die Quelle
offenbarte sich eine gewisse Sinnlichkeit, eine Verbindung von spanischer Grazie und jüdischem Tiefblick. Und noch ehe er einen Monat in Safed weilte, war deutlich, daß die Kabbalisten einen neuen Lehrer gefunden hatten, möglicherweise sogar ihren geistigen Führer.
Der Öffentlichkeit und den vielen Schülern, die ihn vom Wesen Gottes sprechen hören wollten, machte Abulafia tiefen Eindruck. Denn er lehrte, daß selbst der geringste Jude sich durch strenge Konzentration und das Trachten nach der Unendlichkeit Gottes zu höheren, reicheren Ebenen des Verstehens aufzuschwingen vermöge. Doch erst vor der erlauchten Schar der Gelehrten, die ihn jeden Abend aufsuchte, entfaltete Abulafia sein Wissen, denn diesen geübten Denkern legte der spanische Arzt die innersten Geheimnisse der eigentlichen Kabbala dar. Abulafias einleitende Glaubenssätze, die er in Worte von geradezu fließender Reinheit kleidete, waren zweifach: »Um mit sich selbst im Einklang zu leben, muß der Mensch sich bemühen, die Bande seiner Seele miteinander zu vereinen. Dies ist eine Aufgabe, die der Mensch mit seinem Selbst zu vollbringen hat. Dann muß er durch Betrachtung den Namen Gottes zu verstehen suchen, und dieses Begreifen ist die überzeitliche Beziehung zwischen Mensch und Gott.« Abulafias Lehre, wie man zum Begreifen Gottes gelangen könne, war leicht verständlich: »Du mußt dich mit einem Bogen weißen Papiers und einem Pinsel in ein stilles Zimmer setzen und aufs Geratewohl die Buchstaben des hebräischen Alphabets hinschreiben, da der Allmächtige sich dieser Sprache bedient hat, als Er die Thora schrieb. Ohne diese gleitenden, sich bewegenden Buchstaben mit bestimmten Worten zu verbinden, mußt du ihnen erlauben, nach eigenem Willen zu kommen und zu gehen. Auch soll dein Geist deinem Arm nicht befehlen, deinen Fingern und dem Pinsel zu befehlen, diesen oder jenen Buchstaben zu formen oder ihn hierhin oder dorthin zu setzen. Nach mehreren Stunden dieses Sich-Bewegens der Buchstaben wird, sofern deine Sammlung stark genug ist, der Pinsel dir entfallen und das Papier dir entgleiten, und endloses Denken erscheint dir, in dem die Buchstaben selbständig frei im Raum sich bewegen. Und nach einer Weile wird dein ganzer Leib von einem Beben ergriffen, dein Atem geht in schnellen Stößen oder stockt, in deiner Brust ist ein Bersten, und du fühlst, daß du gleich sterben mußt. Doch dann kommt ein großer Friede über dich, denn deine Seele hat die Stricke gelöst, die sie fesselten, und von deinen Augen ist der Schleier gewichen. Nach einiger Zeit wirst du in diesem Zustand der Erleuchtung wieder Buchstaben sehen von nie gekanntem Glanze. Und aus ihnen werden die unaussprechlichen Vier hervortreten, und du wirst sie sehen, nicht auf dem Papier, nicht auf der Wand und nicht im Zimmer, sondern in den grundlosen Tiefen deiner Seele: den heiligen Namen Gottes JHWH.«
Diese Grundstufe der Lehren Abulafias war jedem Schüler erreichbar, der sich die Mühe nahm, eine der in Safed umlaufenden Handschriften des Sohar zu studieren. Das Buch selbst erschien nicht weniger geheimnisvoll als sein Inhalt, denn über seinen Verfasser gingen die Meinungen weit auseinander. Aus Heimatstolz vielleicht glaubten die Männer von Safed, der unsterbliche Rabbi Simeon ben Jochai habe es geschrieben. Im zweiten Jahrhundert hatte er gelebt und sich vierzehn Jahre lang vor den Kriegern Kaiser Hadrians verbergen müssen. Eine Höhle beim nahegelegenen Dorf Pekiin war sein Versteck gewesen; Elia hatte ihn dort besucht und ihm die Geheimnisse der Kabbala gebracht. Simeon ben Jochai hatte sie im Sohar niedergeschrieben, und Sohar bedeutete Glanz oder Leuchte. Abulafia dagegen wußte, daß das Buch - ein Kommentar zur Thora - um das Jahr 1280 von einem kühnen spanischen Juden geschrieben worden war; um ihm Glaubwürdigkeit zu verleihen, hatte er sich dabei des AltAramäischen bedient. Der Sohar war ein Gemisch aus mystischen, wahrscheinlich aus verschiedenen älteren Quellen zusammengetragenen Formulierungen und einer zwingenden Darlegung der Art und Weise, wie der Geist sich selbst bisweilen zu einem Innewerden der Wirklichkeit Gottes bringen kann. Heimlich, in abgegriffenen Abschriften, die nachts weitergegeben wurden, war der Sohar aus Granada in alle Teile Europas gelangt und von christlichen Mystikern nicht weniger als von Juden geschätzt worden.
Im Gebirgsstädtchen Safed jedoch erwies sich seine Macht am klarsten, denn hier traf, beinahe durch Zufall, das
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