Die Quelle
die Freistellen in den Schulen waren offenbar nur für sie bestimmt gewesen. Und im Palmach hatten ihm nur aschkenasische Offiziere Befehle erteilt. Jetzt aber, in der Stunde tödlicher Gefahr, trug Nissim Bagdadi die Verantwortung für einen kleinen Teil der Zukunft Israels.
Gottesmann war bereit aufzugeben - und das bedeutete Selbstmord. Deshalb stieß Bagdadi Ilana zur Seite, schlug dem deutschen Juden zweimal hart ins Gesicht. »Auf!« zischte er. Mit kräftigem Ruck riß er Gottesmann auf die Füße und gab ihm einen Stoß, so daß er die letzten achthundert Meter bis zum Palmach-Stützpunkt dahintaumelte. Dann wandte sich Bagdadi barsch nach Ilana um: »Mir nach.« Nach links und rechts spähend, schlich er sich durch das letzte Stück arabischen Gebietes.
Durch Gottesmanns Zusammenbrechen hatten die drei kostbare Minuten verloren. Jetzt war die Sonne aufgegangen. Ein Schuß krachte von den Bergen her. Ilana fuhr zusammen. Aber nun war ihr Mann wieder bei Sinnen. Weitere Schüsse fielen. Er sah die Staubwölkchen, wo die Geschosse eingeschlagen hatten, und dachte: Hoffentlich treffen sie nicht. Daß er die Gruppe in diese schwierige Lage gebracht hatte, begriff er überhaupt nicht. Eine Kugel pfiff nahe an seinem Kopf vorbei. Es war ihm, als müßten seine Lungen bersten. Seine Beine waren schwer wie Blei. Nur einen Gedanken hatte er: Für Ilana muß es die Hölle sein. Er sah sie vorn laufen, und jetzt war er völlig wach. Ilana, entschlossen, das Dorf zu erreichen, rannte so schnell sie konnte, rannte geradeaus. Die Araber schossen auf sie. Noch ein paar Schritte - und sie mußten sie treffen.
In diesen Sekunden der Todesangst mußte Gottesmann an einen Mann in der deutschen Untergrundbewegung denken. Pinsker hatte er geheißen. Ein tüchtiger kleiner Kerl war er gewesen, kalt entschlossen, für den Rest seines Lebens gegen die Nazis zu kämpfen. »Wenn ihr lauft, müßt ihr denken, ihr seid Hasen«, hatte er seinen Männern gesagt. »Ihr seid Hasen bis ans Ende eures Lebens, und ihr müßt laufen, als ob ihr wißt, hinter euch richtet einer sein Gewehr auf euch. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ein Haken nach rechts und ein Haken nach links den Mann aufbringt, der sein Gewehr auf euch richten will. Gottesmann«, hatte er geschrien, »du bist ein Hase.«
»Hinlegen!« schrie Gottesmann. Aber zu seinem Entsetzen lief Ilana weiter geradeaus. Neben ihrem linken Hacken wirbelte ein Geschoß Staub hoch. Er merkte, daß er unwillkürlich auf Deutsch gerufen hatte. Panikstimmung ergriff ihn. Er wollte das hebräische Wort arza rufen, aber ehe er es konnte, drehte sich Bagdadi um. Er übersah sofort die
Situation und gab Ilana ein Zeichen mit der Hand. Sofort warf sie sich hin, überschlug sich dreimal und lief dann in einer anderen Richtung weiter. Die nächste Kugel schlug da ein, wo sie eben noch gewesen war. Rennend, hakenschlagend, sich duckend, keuchend entkamen die drei Juden den Arabern. Ganz nahe war nun das Dorf, das die Palmach-Kameraden hielten. Jetzt bestand die Gefahr, daß im unsicheren Dämmerlicht von dort her auf alles geschossen wurde, was sich bewegte. Deshalb entfaltete Bagdadi im Laufen eine kleine weiße, mit einem blauen Davidstern bestickte Fahne und rief mit aller Kraft: »Palmach! Palmach!«
Ein Posten im Dorf begriff. Mit einem Feuerstoß trieb er die Araber zurück. Die drei aus Kefar Kerem taumelten die letzten hundert Meter dahin, ohne daß eine arabische Kugel in ihrer Nähe einschlug.
Schnaufend, die Hände gegen die Rippen gepreßt, wankten sie zum Befehlsstand. Die Sonne war nun ganz aufgegangen; ihre Strahlen zeichneten deutlich die Schatten der drei auf die Erde. Gottesmann legte eine Hand auf Bagdadis nasse Schulter. »Du kennst das Land«, sagte er. Aber noch ehe er dem hier Befehlenden seine Meldung erstatten konnte, lag Ilana bereits auf dem Boden, zusammengerollt wie ein kleines Tier. Eine Stunde dauerte die Besprechung. Ohne daß Ilana erwachte, hoben Gottesmann und Bagdadi sie auf und trugen sie in ein richtiges Bett. Sie schlief den ganzen Tag. In der Abenddämmerung des 13. April - ein Dienstag war es -wurden Ilana und ihre beiden Kameraden geweckt. Tiefer Schlaf hatte ihnen Erholung von den Strapazen geschenkt. Die Palmach-Gruppe hatte Teddy Reichs Befehl, nach Safad zu marschieren und die befestigten Stellungen dort zu nehmen, sehr genau durchgesprochen. Die erste Erregung war abgeklungen. Furcht hatte keiner mehr. Jeder wußte, daß die Gruppe -
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