Die Quelle
vielleicht schon tot? Jagte er verzweifelt einem Wunschbild nach? Hatte Duvall sie deshalb nicht mitgenommen zur Übergabe? Er stolperte und stürzte.
Der Gedanke allein raubte ihm die letzte Kraft. So darfst du nicht denken!
Aber wenn es so wäre, wenn Duvall einfach nur flüchtete ... ... dann durfte er erst recht nicht entkommen. Benn sprang auf.
»Dann werde ich dich richten. Und der Henker sein.«
Benn erreichte endlich den Waldsaum. Irgendwo hier war das Licht verschwunden. Voller Angst war er noch schneller gerannt, war gestürzt, hatte sich aufgerappelt, war weitergerannt, wieder gestürzt, hatte sich taumelnd aufgerichtet. Immer weiter!
Er spürte seinen Körper nicht mehr, und sein Kopf glühte wie bei hohem Fieber. Keuchend lehnte er sich an die Borke einer Kiefer, japste nach Luft.
Unter den Bäumen waren provisorische Parkplätze angelegt. Der Weg endete vor einem mächtigen Metalltor, das zu einer hohen, zwischen den Bäumen verlaufenden Zaunanlage gehörte, die mit Stacheldraht gesichert war.
Die Zaunanlage bestand aus zwei wuchtigen Maschendrahtzäunen, zwischen denen ein weiterer, zwei Meter hoher Zaun verlief, der in Abständen mit großen Porzellanisolatoren bestückt war.
Was war das für eine Anlage?, dachte Benn. Ein stromgesicherter Zaun in einem Waldhain?
Unter den Bäumen war es seltsam still. Der heulende Wind, der ihm auf der offenen Feldflur so kalt in die Glieder gefahren war, verfing sich rauschend hoch oben in den Baumkronen.
Zögernd näherte er sich dem Tor.
Es stand einen Spalt offen. Eine dicke, durchtrennte Stahlkette mit einem mächtigen Vorhängeschloss lag auf dem Waldboden. Ein verwittertes Emailleschild hing am Tor. Militärisches Sperrgebiet, meinte er trotz der Dunkelheit zu entziffern, das Gesicht dicht an dem hellen Schild.
Duvall war hier unter den Bäumen verschwunden. Aber wohin? Durch den Spalt im Tor oder am Zaun entlang? Duvall hatte sich verstecken müssen. Auf solchen Geländen gab es verfallene Gebäude, Baracken. Ideale Verstecke.
Benn schob sich durch den Spalt im Tor und ertappte sich dabei, wie er darauf wartete, dass irgendwo eine Sirene losheulte.
Aber natürlich passierte das nicht. Das war eine alte, stillgelegte Militäranlage.
Geduckt eilte er den Weg entlang, der breit genug war, dass selbst große Trucks ihn befahren konnten. Schließlich sah er in der Dunkelheit den rechteckigen Schatten eines Gebäudes.
In einem der Fenster flackerte ein Licht.
Eine Kerze. Die Flamme zuckte unregelmäßig auf.
Er hatte sein Ziel erreicht.
Benn versuchte, sich auf das vorzubereiten, was ihn in der Baracke erwartete. Rechne mit dem Schlimmsten, sagte er sich, um sich dann sofort die Frage zu stellen, was denn das Schlimmste sein konnte.
Seine Frau war tot.
Nein, das war nicht das Schlimmste.
Seine Frau war gequält worden und tot.
Benn spürte, wie ein Zittern ihn erfasste. Es begann in den Oberschenkeln, lief durch den ganzen Rumpf und ergriff am Ende die Fingerspitzen. Er sah auf die Pistole in seiner Hand, die er nicht ruhig halten konnte. Er sehnte sich nach der Kraft, einfach loszurennen, in die Baracke zu stürmen, Duvall niederzustrecken und seine Frau unversehrt in den Arm zu nehmen.
In Gedanken spielte er alle Möglichkeiten durch, stellte sich die verschiedensten Situationen vor, versuchte seine Reaktionen vorzubereiten.
Die Kerze flackerte plötzlich heftig.
»Ziegler! Wo bist du? Bist du schon da? Ich bin hier! Du siehst doch die Kerze im Fenster.« Die Stimme ging in ein hämisches Kichern über.
Benn versuchte, Duvall vor der Baracke auszumachen.
»Deine Frau ist hier. Sie wartet auf dich. Sie weint, weil du so feige bist und nicht kommst.«
Benn biss sich auf die Unterlippe. Mit aller Kraft kämpfte er gegen den Drang an zu antworten. Er verharrte weiter regungslos unter den Bäumen.
Ein letztes Kichern drang von der Baracke herüber, dann war ein leises Klappen zu hören, und die Flamme der Kerze beruhigte sich.
Plötzlich fror er. Trotz der Hitze, die in seinen Adern pulste. Er sah in den Himmel. Das Firmament war übersät mit Sternen. Der Wind hatte die Wolkendecke vertrieben, und mit der klaren Nacht war auch die Kälte gekommen.
Benn stapfte unvermittelt los.
Zielstrebig trat er aus der Dunkelheit unter den Bäumen und lief über den Weg auf die Baracke zu. Unter seinen Schuhsohlen schmatzte der feuchte Boden, dann erreichte er den festen Teil des Weges, der ihn bis an die Baracke führte.
Ein paar Stufen
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