Die Quelle
von Bundeswehr und Bundespolizei im Lagezentrum des Bundeskanzleramtes verfügten über die Telefonnummern von praktisch allen wichtigen Personen in der Bundesrepublik. Dazu gehörten auch die Chefs der großen Energieunternehmen, deren Geheimnummern, unter denen sie im Notfall jederzeit zu erreichen waren, Hagen nun halfen, sich ein Bild von der Lage zu machen.
Im Moment sprach er über das Festnetz mit dem Chef eines großen Stromkonzerns im Westen der Republik.
»Nein, auch wir wissen noch nicht, warum die Netze zusammengebrochen sind.« Die Stimme seines Gesprächspartners klang angespannt.
»Haben wir am Morgen wieder Strom, wenn die Leute aufwachen?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Die Reparaturtrupps sind natürlich unterwegs. Aber es ist ja offensichtlich, dass es mehr ist als ein Crash in ein paar Kupplungsstationen oder durchgeknallte Sicherungen in Umspannwerken.«
»Sie haben doch Notfallpläne - warum greifen die nicht?«
»Die Notfallpläne sehen vor, dass wir zunächst den Fehler finden müssen. So weit sind wir leider noch nicht. Obwohl alles auf den Beinen ist, was laufen kann. Übrigens: Es musste ja mal passieren. Sie wissen, wie oft wir schon mahnend Investitionen in die Netzkapazitäten ...«
»Für eine solche Diskussion ist jetzt sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt.«
Beruhige dich, dachte Hagen in einem Anflug von Panik. Es schien tatsächlich das eingetreten zu sein, wovor Einzelne seit Jahren immer wieder warnten, ohne dass man sie wirklich ernst genommen hatte.
Er drückte sein Kreuz durch. Die Anspannung der letzten Stunden hatte Hagens ganze Schulterpartie hart und steif werden lassen. Er streckte den Nacken, und die Halswirbel knackten, als bräche sein Genick.
»Der Kanzler will zufriedenstellende Antworten. Dazu gehört auch die Aussage, dass der Fehler nicht bei uns liegt. Stimmt es, dass die Ursachen in Frankreich liegen?«
Hagen dachte kurz an die letzten Stunden zurück. Der Kanzler hatte nach ihrer Rückkehr aus dem Fernsehstudio umgehend mit den wichtigsten Regierungschefs Europas telefoniert. Der italienische Ministerpräsident schien bereits mehr über die Ursachen des Stromausfalls zu wissen. Er gab den Franzosen die Schuld.
»Nach meinen bisherigen Informationen scheint ein erhöhter Strombedarf der Franzosen eine gewisse Rolle zu spielen, aber dem Land gleich die Schuld zuzuweisen, halte ich im jetzigen Augenblick für voreilig.«
Hagen stutzte angesichts der vorsichtigen Antwort. Aber vielleicht wusste sein Gesprächspartner, dass die vom Lagezentrum vermittelten Gespräche dort mitgehört und aufgezeichnet wurden, und wollte später nicht mit voreiligen Schuldzuweisungen konfrontiert werden.
»Gibt es irgendetwas Beruhigendes, was ich dem Kanzler sagen kann? Etwas, was er bei seinen Gesprächen mit seinen europäischen Kollegen transportieren sollte?«
»Ich habe keine Beruhigungspillen im Angebot.«
Hagen knallte den Hörer auf und tigerte durch sein Büro, um wenigstens einen Teil der Anspannung abzubauen. Mitten in die Überlegungen, wen er als Nächstes anrufen sollte, klingelte sein Handy.
Als er sich meldete und die Stimme hörte, vergaß er für Sekundenbruchteile den Stromcrash, denn das war der Anruf, auf den er den ganzen Abend so sehnsüchtig gewartet hatte.
Im nächsten Augenblick jedoch war ihm klar, dass neuer Ärger anstand.
Rainer Kemper war voller Panik, stammelte von einem Überfall auf das Institut, behauptete, er und Professor Münch seien von ein paar vermummten Gestalten entführt worden und sein Experiment mit Sprengladungen vernichtet worden.
Kempers Stimme überschlug sich, er zischelte, atmete schwer und schwankte zwischen unbändiger Aggressivität und mutlosem Selbstmitleid.
In Hagens Kopf wirbelte alles durcheinander, aber nach und nach gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen und auch Kemper so weit zu beruhigen, dass dieser anstelle von Vorwürfen und Flüchen schließlich auf seine Fragen antwortete.
Wenn Hagen Kemper richtig verstand, sollte Kemper mit einem U-Boot verschleppt werden, und war ins Meer gestürzt, als es zu einer Schießerei zwischen der U-Boot-Besatzung und seinen Entführern gekommen war. Was aus Professor Münch geworden war, wusste Kemper nicht.
Kemper war von der See abgetrieben und von einem Pärchen halbtot aus dem Meer gerettet worden, die ihn nun irgendwo an Land bringen wollten.
Zunächst kam Hagen der Gedanke, Kemper sei durchgedreht. Für ihn war Kemper ein Mensch mit großen
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