Die Quelle
Müllberge. An manchen Stellen waren regelrechte Pyramiden aufgehäuft worden, ansonsten lag der Müll in Säcken oder lose einfach auf den Gehwegen oder auf den Straßen.
»Gestern hat es bei Plünderungen die ersten Toten gegeben. Polizei und Feuerwehr sind nicht zu erreichen. Die Stadt ist lahmgelegt. Da gibt es Leute, die nutzen solche Situationen gnadenlos aus. Unzufriedene, Kriminelle, Chaoten. Von der ersten Minute an. Der Stadtpräfekt erwartet, wenn das so weitergeht, für die kommenden Tage die ersten größeren Unruhen.«
»Da vorne«, sagte Wellens nach einer knappen halben Stunde.
Die ruhige Seitenstraße war zu beiden Seiten mit Fahrzeugen zugeparkt, sodass auf der verbleibenden Fahrbahn kaum zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikommen würden.
Auch hier türmte sich der Müll zwischen den Fahrzeugen und auf den Gehwegen. Wie es schien, nutzte so mancher die Gelegenheit, gleich seinen Keller mit zu entrümpeln.
»Rattenparadies«, sagte Wellens, der Benns Blick bemerkte. »Es sieht nicht nur hier so aus. In Berlin wird es nicht anders sein.«
»Anzunehmen.«
Benn musterte das mehrgeschossige Wohnhaus, auf das der Botschaftsangehörige deutete. Es war ein leidlich gepflegt wirkender Altbau inmitten einer langen Häuserzeile.
»Woher kennen Sie denn nun seine Adresse?«, fragte Benn.
»Sie haben die geballte Unterstützung der deutschen Botschaft, das habe ich Ihnen doch gesagt.« Wellens lächelte verschmitzt. »Wir haben Kontakte und Möglichkeiten. In diesem Fall hat allerdings ein Blick in das Pariser Telefonbuch gereicht. Dazu noch eine kleine Recherche heute früh bei den drei Adressen, nachdem klar war, dass heute keiner in der Energieagentur arbeiten würde. Vor Ort dann jeweils zwei Fragen eines angeblichen Boten der Energieagentur bei Nachbarn ... Es ist immer schön, wenn die Nachbarn ein wenig voneinander wissen. Die Wohnung unseres Timo Moritz war schnell gefunden.«
Benn schwieg verblüfft, denn mit einer solch einfachen Erklärung hatte er nicht gerechnet.
»Und warum haben Sie ihn nicht gleich gefragt, was er weiß?«
»Ich? Ich habe einen klaren Auftrag. Fest umrissen. Ich erfülle meinen Teil und Sie Ihren.«
»Sie wissen, warum wir hier sind?«, fragte Benn.
»Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass die Nachricht aus Deutschland besagt, Ihnen zu helfen. Ohne dabei die Grenzen, die man mir gesetzt hat, zu überschreiten.«
Benn dachte an die Skepsis, die er immer noch gegenüber Hagen und Berger hegte. Trotz der Unterstützung, mit der es ihm erst möglich gewesen war, nach Paris zu reisen.
Aber offensichtlich hatte er sich gründlich getäuscht. Wenn auch die Worte des Botschaftsvertreters so klangen, als gäbe es einen Punkt, wo die Unterstützung endete, sprach Wellens' Anwesenheit gegen sein Misstrauen. Ohne dessen Vorarbeit hätte er zumindest viel Zeit verloren.
»Und wann erreichen wir die Grenze Ihrer Unterstützung?«, fragte Benn.
»Das sage ich Ihnen, wenn es so weit ist.« Wellens nickte zum Haus hin. »Jetzt sind Sie an der Reihe. Die Tür ist offen. Sehr schön. Er wohnt im dritten Stock.«
Benn und Ela Stein stiegen aus.
»Ich warte hier. Und denken Sie daran: Offiziell sind Sie nicht hier. Die französischen Behörden wissen von nichts. Wir wollen keine Pferde scheu machen.«
Wenn Wellens die richtige Adresse ermittelt hatte, dann wohnte Timo Moritz gediegen. Die Farbe an den Treppenhauswänden wies keine Schmutzspuren oder Schrammen auf, und auf dem roten Teppichboden, der mit messingfarbenen Metallringen auf den braunen Holzstufen befestigt war, fehlten die Trittspuren einer langen Beanspruchung.
Nicht schlecht, dachte Benn, als sie die Treppe nach oben stiegen und auf dem Podest im dritten Stock anhielten.
Der Name stimmte. Das Namensschild war penibel gedruckt. Benn sah die Kommissarin fragend an und drückte die Klingel, nachdem sie ihm entschlossen zunickte.
Nichts passierte.
Die Kommissarin sah ihn kopfschüttelnd an.
Benn schlug sich mit der Hand vor die Stirn und schüttelte verlegen lächelnd den Kopf. Vor lauter Gewohnheit hatte er nicht an den Stromausfall gedacht.
Er klopfte gegen die Tür, zunächst zaghaft, dann energischer.
Aus der Wohnung drang kein Laut.
»Vielleicht schläft er ja«, sagte Benn.
»Dann versuchen Sie es lauter.«
Benn lauschte. Aber hinter der Tür blieb es still.
Wieder klopfte er energisch gegen die Tür, versuchte es noch einmal, als sie keine Reaktion wahrnahmen. Die Kommissarin stupste ihn an, und
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