Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
wollte dich bitten, endlich etwas für dich selbst zu tun. Wir haben viele Male darüber gesprochen, aber das Leben schien uns immer irgendwie in die Quere zu kommen.
Deine Eltern sind da draußen, Michael, irgendwo. Und du mit deinen vielen Begabungen solltest in der Lage sein, sie zu finden. Ich hatte gehofft, sie für dich finden zu können. Ich hatte in aller Stille zu suchen angefangen. Ich habe mir noch einmal die Geburtsurkunde und die anderen Papiere angeschaut und habe versucht, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, die in dem Waisenhaus beschäftigt waren, in dem die St. Pierres dich adoptiert haben. Aber egal in welche Richtung ich mich bewegte, irgendwann kam ich nicht weiter. Alles, was ich dir geben kann, ist die Adresse eines Rechtsanwalts, der kostenlos für St. Catherine’s tätig ist. Ich weiß seinen Namen von einer Frau, die ich kennengelernt habe, als ich die Geburtseinträge der Krankenhäuser in Boston durchsuchte.
Gehe der Sache nach, Michael. Suche nach deinen Eltern. Es ist meine letzte Bitte an dich. Ich will nicht, dass du allein bist auf der Welt.
Erst die Familie macht uns zu vollständigen Menschen. Sie kann die Leere in unserem Inneren füllen und die Hoffnung wiederherstellen, wenn wir glauben, sie für immer verloren zu haben. Ich liebe dich, Michael. Ich werde dich immer lieben und immer bei dir sein.
Deine Frau und beste Freundin,
Mary
Unten auf dem Brief stand mit Bleistift geschrieben eine Adresse: Franklin Street 22, Boston.
Michael blickte ein letztes Mal auf Marys Zeilen, faltete den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag und steckte ihn zurück in seine Jackentasche.
3.
E s war Anfang Juni, und seit fünf Tagen herrschte die erste Hitzewelle des Jahres. Eine schlimmere Nacht, um die Klimaanlage ausfallen zu lassen, hätte man sich gar nicht aussuchen können. Die Luft war so heiß, dass sie die Lunge bei jedem Atemzug zu versengen schien. Kein Windhauch regte sich, als wollte die Luft ihre Opfer umarmen, bis sie an der Hitze starben.
Paul Busch war sicher, dass der Umsatz an der Bar mehr als das Dreifache von dem betragen würde, was an einem gewöhnlichen Abend konsumiert wurde; die Leute kauften sich ihre Drinks ausschließlich wegen der Eisstücke, und die schmolzen innerhalb von Minuten. Langsam machte das Ganze ihn nervös, denn fast alle waren im Vollrausch, und die Lufttemperatur war unerträglich. Jetzt brauchte bloß einer einen Wutanfall zu bekommen, mit dem er die anderen ansteckte, und schon würde es zu einer Prügelei von zerstörerischen Ausmaßen kommen. Nicht ganz das Richtige für einen Frühsommerabend.
Das Valhalla war ein hochpreisiges Restaurant in einer seit kurzem hochpreisigen Stadt und hatte eine hochpreisige Klientel. Die Mahlzeiten bestanden aus schlichter amerikanischer Küche, die auf elegante Weise serviert wurde. Die jungen Gäste, die sich so toll fanden, dass sie es selbst kaum ertragen konnten, hingen gewöhnlich bis nach 23.00 Uhr herum, weil sie hofften, Frischfleisch abschleppen zu können, und machten sich mit schwächlichem Geschwätz, aber umso stärkerem Schnaps an ihre Beute heran. Und der Nervenkitzel war nicht nur den Jägern vorbehalten; auch so manche Jägerin markierte ihr Territorium von Mittwoch- bis Sonntagabend, obwohl die Gäste zu sechzig Prozent aus Frauen bestanden.
Die Bar aus Kirschholz war das Einzige, was von den früheren Restaurants übrig geblieben war – vom Ox Yoke Inn, einem Grillrestaurant; vom GG’s North, einer Bikerbar, die man hatte schließen müssen, als die Dragsterrennen so schwierig wurden, dass die elfköpfige Mannschaft der Polizei nicht mehr damit fertig wurde; vom Par’s, einer verrauchten Peinlichkeit, die ein Steakhaus hatte sein wollen. Das Holz der Bar war so dick gewachst, dass es stumpf glänzte, und konnte verkommenere Geschichten erzählen, als man bei jeder Beichte in der Kirche zu hören bekam. Diese Bar war Pauls Stolz und sein ganzes Glück. Jetzt aber war sie verborgen hinter der Menschenmenge, die sich am Tresen drängte, während die Gäste versuchten, Pauls Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil sie die nächste Runde bestellen wollten.
Die Musik erklang aus einem Steinway-Flügel, der 1928 in Queens, New York, gebaut worden war. Der Pianist rang sich ein Lied nach dem anderen ab, schaffte es jedes Mal, Töne anzuschlagen, die bei den Leuten an der Bar ankamen, vollführte bei der Auswahl einen Balanceakt zwischen aktuellem Pop über Oldies aus den Siebzigern bis
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