Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
geworden war. Ich saß zu der Zeit im Gefängnis und erfuhr nichts von dem Kind. Bis vor vier Monaten wusste ich überhaupt nichts von alledem.
Als meine Mutter das Kind zur Welt brachte, wusste sie, dass sie sich nicht um den Jungen würde kümmern können. Sie war geistig labil und wollte nicht, dass jemand erfuhr, was geschehen war. Also wandte sie sich an ihre Freundin Genevieve Zivera, deren kleines Waisenhaus dem Kind das fürsorgliche und liebende Zuhause geben konnte, das sie selbst ihm niemals hätte bieten können.
Als meine Mutter das Kind an Genevieve übergab, musste diese ihr etwas versprechen. Sie musste dem Jungen ihren Namen geben und ihn als ihr eigenes Kind großziehen, nicht als Waisen, sondern als ihr eigenes Fleisch und Blut. Meine Mutter konnte den Gedanken nicht ertragen, dass das Kind jemals von seiner schrecklichen Herkunft erfuhr – von seinem geisteskranken Vater und seiner von Narben entstellten, unfähigen Mutter, die sich am Rand eines Nervenzusammenbruchs befand.
In all den Jahren hat Genevieve nie ein Wort gesagt, nie eine Anspielung gemacht, was passiert war. Ich habe den Jungen ab und zu gesehen, wenn ich Genevieve besucht habe. Hin und wieder brachte sie ihm auch mit in den Vatikan. Ich habe mir Gedanken über den Jungen gemacht. Er war sehr still und hatte seltsam leere Augen, ohne jedes Gefühl. Aber ich habe ihn nie gut genug kennengelernt, um zu wissen, wie problembelastet er in Wirklichkeit war, oder wie vertraut mir sein äußeres Erscheinungsbild in Wahrheit gewesen ist.
Genevieve brach schließlich das Versprechen, das sie meiner Mutter gegeben hatte. Es quälte sie, die Wahrheit preiszugeben – nicht aus Treulosigkeit meiner Mutter gegenüber, wohl aber, weil sie sich Sorgen machte, wie mich das Ganze beeinträchtigen würde, weil sie Angst hatte vor dem, was ich möglicherweise tun würde, wenn ich die Wahrheit über die Herkunft des Jungen erfuhr.
Denn wir hatten es jetzt mit einem Mann zu tun, der im buchstäblichen Sinne seine Familie getötet hatte, seine Ehefrau und seinen Schwiegervater, um deren Kirche zu übernehmen. Er war ein Mann, der Gott aus reiner Gier ausschlachtete. Ein Mann, der predigte, aber auf heuchlerische Weise jeder seiner Predigten zuwider lebte.« Simon stockte einen Moment und schaute Michael an, auf dessen Gesicht sich Fassungslosigkeit spiegelte. Dann fuhr er im Flüsterton fort: »Julian Zivera ist der abscheulichste Mensch, den es gibt, das Abbild meines geistesgestörten Vaters … und er ist mein Bruder.«
Michael starrte Simon an. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Das bleibt unter uns«, sagte Simon.
»Du musst mir versprechen, dass wir zuerst Susan und Genevieve da herausholen.«
Simon nickte. »Selbstverständlich.« Es wurde totenstill im Cockpit, der Augenblick dehnte sich zur Ewigkeit. Die beiden starrten einander an, bis Simon schließlich sagte: »Und dann werde ich Julian töten.«
Schweigend saß Michael mit Busch, Simon und Martin am Konferenztisch. Er war zutiefst schockiert über Simons Enthüllungen, versuchte, konzentriert zu bleiben und starrte auf die goldene Schatulle, die auf dem Tisch stand.
»Meine Herren, seien Sie bitte so freundlich und lassen Sie uns eine Weile allein.« Kelleys Stimme klang herablassend, als er aus seinem Schlafzimmer im Heck des Flugzeugs trat und sich mit dem Handtuch das nasse Haar frottierte. Er hatte die Uniform des Sicherheitsbeamten ausgezogen und trug jetzt eine hellbraune Hose und ein weißes Baumwollhemd. Mit seiner Garderobe hatte sich auch seine Persönlichkeit verändert. Er war jetzt wieder eine dominierende Erscheinung, der Mann, den Michael in Boston an der Tür kennengelernt hatte.
Die drei Männer verließen das Flugzeug. Martin schaute noch einmal zurück und blickte Kelley kurz an; dann schloss er die Tür hinter sich.
Kelley nahm gegenüber von Michael am Konferenztisch Platz. Abgesehen von dem einen Tag in Boston, als man sie unterbrochen hatte, war es das erste Mal, dass Vater und Sohn allein miteinander waren – das erst Mal jedenfalls, seit Michael zur Welt gekommen war. Als er Stephens Gesichtszüge studierte, konnte er tatsächlich eine Ähnlichkeit erkennen. Sein Vater hatte die gleichen Augen wie er selbst – die Fenster zu einer Seele mit Tiefgang.
Vater und Sohn blickten einander an, schätzten sich gegenseitig ab. Dann stieß Kelley unvermittelt hervor: »Was geht hier eigentlich vor, verdammt noch mal?«
Der plötzliche Gefühlsausbruch
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