Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Licht der Lampen schien schwächer zu werden. Ihre Strahlen bewegten sich auf die Schatulle zu und verschwanden darin. Im Gegenzug schien Dunkelheit aus der Schatulle zu strömen und nach draußen zu fließen – ein schwarzer Nebel, der aus dem Inneren über den Rand quoll, herunterglitt und über dem Fußboden wogte. Tiefschwarz breitete er sich aus, hüllte den Teppich ein, die Stühle, tauchte den Raum in eine unwirkliche Dunkelheit und raubte der Welt das Licht.
Und dann wogte der Nebel auf den russischen Mörder zu, der mit seinen beiden Pistolen dastand und auf Julian zielte.
Raechen starrte fasziniert auf die Schatulle, war wie erstarrt und rührte sich nicht. Julian beobachtete, wie sich ein Schatten um die Füße des Killers legte, seine Beine hinaufkroch, sich über die Brust und die Schultern und schließlich über den Kopf ausbreitete. Raechen begann zu zittern, zu keuchen, nach Luft zu schnappen. Seine Augen füllten sich mit tiefroten Tränen aus Blut. Sie rannen ihm über das Gesicht und verschwanden in der Schwärze, die über ihm lag. Und dann floss die Dunkelheit davon, bewegte sich aus eigener Kraft wie ein wogender Schatten, der über ein Eigenleben verfügte.
Die Wachen standen wie festgenagelt da und beobachteten das unfassbare Schauspiel, das sich ihnen bot. Die Schwärze floss nach außen, und Raechen brach tot neben Julian zusammen. Im nächsten Moment wurde der Nebel größer, zugleich bewegte er sich schneller und schneller. Die Wachen lösten sich aus ihrer Erstarrung, warfen sich herum und wollten fliehen, doch es war hoffnungslos: Die Schatten verschlangen sie, zogen sie zu Boden und bedeckten ihre Körper.
Julian saß wie gelähmt da. Unfähig, einen Gedanken zu fassen, beobachtete er das Massaker, das sich vor seinen Augen abspielte. Trotz der Schreie und der Panik empfand er nichts. Die Heimsuchung schien an ihm vorüberzugehen, als wäre er mit dem Blut eines Lammes bestrichen.
Die Schwärze floss nun unter den Türrahmen und aus dem Zimmer heraus auf den Korridor. Julian konnte die Schreie hören und die Geräusche, wenn Körper auf den Boden schlugen. Der Horror schallte durch die Villa und versetzte alle in Angst und Schrecken.
Dann sah er es, auf dem Boden der Schatulle. Es lag im Halbdunkel, aber sein Glanz wurde allmählich heller. Julian griff hinein und zog es heraus. Es war leicht, golden und rein. Es besaß keinerlei Substanz, hatte weder Struktur noch Masse, war einfach nur ein goldenes Licht, das ihn mit Wärme und Hoffnung erfüllte, das ihm den Schmerz aus dem Herzen und den Gedanken nahm …
Und als er aufblickte, war sie da. Stand vor ihm, inmitten der Toten. Lautlos schritt sie auf ihn zu, blickte vorwurfsvoll auf ihn hinunter. Dann nahm sie ihm die Schatulle aus der Hand und klappte behutsam den Deckel zu. Genevieves ganzer Körper schien zu strahlen, als sie ihren Sohn anblickte.
Julian starrte sprachlos auf seine Mutter, die so plötzlich vor ihm stand. Er versuchte, etwas zu sagen, aber wie in einem Traum war er mit einem Mal stumm, und seine Lippen bewegten sich, ohne einen Laut hervorzubringen. Er schauderte. Genevieves Gegenwart entsetzte ihn mehr als der Tod um ihn her.
Genevieve lächelte warm und liebevoll, und das erschreckte ihn noch mehr, denn er hatte sie getötet, hatte sie nur Stunden zuvor tot vor sich liegen sehen.
Julian blickte durch den Raum auf die leblosen Körper, die überall am Boden lagen, und fragte sich, warum er nicht ebenfalls dalag. Sein Geist drohte endgültig zu versagen. Er hatte die Zerbrechlichkeit seiner eigenen Psyche niemals hinterfragt, denn er hatte immer gewusst, dass Genie und Wahnsinn dicht nebeneinanderliegen, aber er konnte nicht begreifen, was da jetzt vor ihm stand. Sein Körper war vor Angst gelähmt, sein Herz raste, und sein Verstand war wie betäubt vor Verwirrung.
»Julian.« Genevieves Lippen bewegten sich nicht, doch er konnte ihre Stimme deutlich in seinem Kopf hören.
»Was bist du?«, fragte Julian heiser. Vor Angst ging sein Atem schwer. »Ein Engel? Damit beauftragt, das Geheimnis des Lebens zu bewachen?« Er schloss die Augen und versuchte, seine Kräfte zu sammeln. » Was bist du?«
Enttäuscht blickte Genevieve auf ihn hinunter. »Du hast zu viele Bücher gelesen«, erklang ihr Flüstern in seinem Kopf. »Das sind Geschichten, geschrieben von Menschen, die nicht Zeuge waren, welche Mysterien sich seit Anbeginn der Zeit ereignet haben. Manche Tatsachen sind Märchen, doch wie du weißt, sind
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