Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
manche Märchen Tatsachen. Aber du ignorierst, was sie bewirken sollen, du ignorierst ihre Warnung und vergisst, dass sie den Zweck verfolgen, Menschen den rechten Weg zu weisen. Du vergisst ihre metaphorische Bedeutung.«
Julian blickte auf die Schatulle, die Genevieve jetzt in den Händen hielt. »Was ist in der Schatulle?«
»Du weißt, was darin ist. Du wusstest, was sie enthielt. Und doch hast du beschlossen, die Warnungen zu ignorieren. Die Schatulle enthält die Macht, ewiges Leben zu gewähren, aber wie du siehst«, Genevieve blickte durch den Raum und auf das Massaker, das sie umgab, »stellt sich das anders dar, als du es dir vorgestellt hattest. Sie ist der Tod. Sie hat die Macht, den Menschen von seinen irdischen Fesseln zu befreien, auf dass er gerichtet wird und seine gerechte Entlohnung bekommt. Sie ist das Böse und die Dunkelheit, sie ist der Weg zu den Toren der Hölle für diejenigen, die des Himmels nicht würdig sind. Sie bringt jeden Einzelnen in die Ewigkeit, die ihm gebührt.«
»Warum bin ich nicht tot?«, fragte Julian flehentlich und verwirrt und blickte dabei auf die Leichen. »Was bin ich? Warum bin ich nicht tot? «
Genevieve beugte sich vor und zog ihr Kreuz, das schwertartige Kreuz, das sie immer um den Hals getragen hatte, aus Julians Hand. Einen Moment schaute sie darauf; dann blickte sie Julian wieder an. »Die größte Macht ist manchmal nicht Geld oder Gewalt. Manchmal liegt sie verborgen in den einfachsten und kleinsten Dingen.« Genevieve befestigte das Kreuz, das sie so viele Jahre getragen hatte, an der dünnen Kette und verknotete sie um ihren Hals. »Den heiligsten Dingen.«
»Heißt das, ich werde trotzdem sterben?«
Genevieve lächelte. »Jeder stirbt, Julian. Wie wir unser Leben führen, wie wir es schätzen, entscheidet über unser Schicksal. Kein Mensch weiß, wie lange ihm bleibt, und trotzdem ist mancher bereit, auf Dinge zu verzichten, die Genuss und Befriedigung verschaffen. Er entsagt der Lebensqualität zugunsten einer größeren Lebensdauer. Du hast allem den Rücken gekehrt: Familie, Glauben, Hoffnung, und vor allem der Liebe. Du bist der Inbegriff von Gier. Und dennoch, trotz allem, was hier geschehen ist, trotz allem, was dir in deinem Leben widerfahren ist, empfindest du keine Reue, kein Mitleid für die Menschen, die du getötet hast. Deshalb wirst du, wenn du stirbst – was erst in Jahrzehnten der Fall sein könnte –, gefangen sein in ewiger Nacht, weil du keine Seele mehr hast. Du wirst für alle Ewigkeiten an dem Ort gefangen sein, vor dem du dich am meisten fürchtest.«
»Was ist mit Vergebung?«, flehte Julian, der kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. »Was ist mit dem Himmel?«
»Um Vergebung zu erlangen, muss man bereuen und Opfer bringen. Dinge, die dir fremd sind, Julian. Was den Himmel angeht, so ist er der schönste Ort, den man sich vorstellen kann. Dir wurde als Kind gestattet, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, seine Liebe zu spüren und seine Wärme, damit du weißt, was du geopfert hast und was du niemals haben wirst. Du wirst vielleicht versuchen, den Tod hinauszuschieben, aber eines Tages wird er zu dir kommen, und bis zu diesem Augenblick wirst du wissen, was dich danach erwartet, und dir deine Ewigkeit des Leidens vorstellen. Es tut mir leid.«
Julian saß da und lauschte der Stimme in seinem Kopf, der Verkündigung seiner Verurteilung zu ewiger Dunkelheit, zu dem Nichts, das ihn in seinen Träumen wie ein Gespenst verfolgt hatte seit dem Tag, als er auf dem Spielplatz gestorben war. Die Leere, der er so verzweifelt hatte entgehen wollen, würde ihn im Augenblick seines Todes umschlingen.
Julians Furcht trieb ihn immer tiefer in den Wahnsinn, ließ ihn zornig auf sich selbst werden und lähmte ihn, bis er den letzten Funken Verstand verlor. Und in diesem Moment wurde aus der Furcht nackte Wut. Sie loderte in ihm auf, gab ihm neue Kraft, erfüllte sein Herz mit jener Rage, die ihn so viele Jahre lang am Leben erhalten hatte. »Du bist nicht hier. Du bist tot! Ich habe dich gesehen … ich habe deine Leiche gesehen.«
»Wirklich?«, fragte Genevieve, und ihre Erscheinung begann zu schweben. »Siehst du mich jetzt?«
Julian schoss von seinem Stuhl hoch, sprang seiner Mutter an die Kehle und packte sie, verfiel endgültig dem Irrsinn. Er drückte zu, schüttelte ihren Körper mit verzweifelter Gewalt und schrie dabei: »Was bist du?«
Und da verschwand sie plötzlich. Ihr Körper löste sich auf im hellen Licht des
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