Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Es war, als höre er vom Tod eines Fremden. Er wusste ja nicht einmal, wie seine Mutter ausgesehen hatte.
»Ihr Vater …« Stephen Kelley hielt kurz inne, fuhr dann fort: »Er war noch ein Teenager, der nicht einmal für sich selbst sorgen konnte.«
»Klar.« Michael senkte den Blick.
»Warum suchen Sie jetzt nach ihm, nach so vielen Jahren?«
»Es war der Wunsch meiner Frau. Sie meinte, ich müsse nach ihrem Tod wieder jemanden finden, zu dem ich gehöre. Sie war der Ansicht, ich müsse meine Familie finden.«
»Ihr eigener Wunsch ist das nicht?«, fragte Kelley.
Michael blickte auf und schaute in das Gesicht des Mannes, studierte seine Züge. »Mein Vater – lebt er noch?«
Kelley atmete tief durch und überging die Frage. »Was machen Sie beruflich?«
»Mir gehört ein Sicherheitsunternehmen.«
Kelley nickte. »Nicht einfach, sein eigenes Geschäft zu haben. Niemals zu wissen, wem man vertrauen kann, abgesehen von einem selbst. Bestimmt haben Sie früher für die Polizei gearbeitet, nicht wahr?«
Michael nickte. »So ähnlich.«
»Hat es Ihnen Freude gemacht?«
»An manchen Tagen.«
»Ja.« Stephen Kelley seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. An manchen Tagen macht es Spaß, aber manchmal müssen wir Dinge tun, die uns keine Freude machen. Manchmal müssen wir sogar widerwärtige Dinge tun und moralische Kompromisse schließen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Die Männer blickten einander an. Sie verstanden beide, wollten das Thema aber nicht vertiefen. Michael löste sich als Erster aus der Erstarrung. Er schaute sich im Zimmer um, betrachtete die Gemälde. Seine Gedanken rasten. Er kannte moralische Kompromisse nur zu gut; er hatte sie bei viel zu vielen Gelegenheiten eingehen müssen. Und er befürchtete, dass für Kelley das Gleiche galt.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Kelley nickte.
»Warum haben Sie mich weggegeben?«
Es wurde ungemütlich eng in dem großen Herrenzimmer. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Beide Männer hörten das Pochen ihrer Herzen, als das unvermeidbare Eingeständnis ihrer Verbindung plötzlich im Raum stand.
»Das ist eine Frage, die mir zu schaffen machte, seit … mein ganzes Leben lang. Ein Teil von mir hat Sie vor einem Jahr hier erwartet, der andere Teil dachte, Sie würden niemals kommen.«
»Wie konnten Sie wissen, dass ich Sie finde?«
»Ihre Frau wirkte ziemlich entschlossen.«
»Wusste sie es?«
»Dass ich Ihr Vater bin? Nein. Wie ich schon sagte, hielt ich es für das Beste, nicht über Sie zu reden, wenn Sie nicht zugegen sind. Ich bin sicher, dass es ohnehin eine belastende Zeit für Sie war, da konnten Sie keinen weiteren Trubel gebrauchen.«
Michael sah Kelley auf einmal aus einer ganz neuen Perspektive. Schweigend musterten die beiden Männer einander, verlegen angesichts ihrer plötzlichen Wiedervereinigung.
»Du siehst aus wie ein Kelley«, sagte Stephen schließlich und wechselte zur persönlichen Anrede.
Michael wusste nicht, was er mit dieser Feststellung anfangen sollte. Er sah sich den Mann, der vor ihm saß, genauer an: seine blauen Augen, sein markantes Gesicht, seinen athletischen Körper. Er hatte sich nie Gedanken gemacht über das Erscheinungsbild seines leiblichen Vaters, war aber nicht erstaunt über den Mann, den er jetzt sah.
Doch es spielte keine Rolle, denn Michael war ein St. Pierre, war es immer gewesen und würde es immer bleiben.
»Hast du Kinder?«, fragte Michael.
»Einen Sohn«, erwiderte Stephen, und sein Blick glitt auf die Regale hinter Michael. »Außer dir.«
Michael folgte Stephens Blick und sah mehrere Fotos, die Stephens Sohn in verschiedenen Phasen seines Lebens zeigten. Er hatte die gleichen blauen Augen wie Kelley und wie Michael selbst.
»Es gibt da etwas, was ich dir geben muss.« Kelley erhob sich von seinem Platz. In seinen Bewegungen und seiner Stimme schwang ein Hauch von Erregung mit. Schnellen Schrittes eilte er aus dem Raum und schloss hinter sich die Schiebetüren.
Michaels Gedanken überschlugen sich. Diese Mann war sein Vater, der Mann, der ihn weggegeben hatte und der Mary begegnet war. Hatte sie die Wahrheit geahnt? Es sah ganz so aus.
Michael war hierhergekommen, ohne viel zu erwarten. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, er könne seinen Vater so schnell finden. Er war unvorbereitet hergekommen, ohne eine Liste mit Fragen oder Beschwerden, ohne Neugier im Hinblick auf seinen leiblichen Vater und seine leibliche Mutter. Jetzt aber, nachdem er den Mann gesehen hatte, herrschte
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