Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
in seinem Kopf ein wirres Durcheinander. Auf einmal wollte er alles wissen – über seinen Vater, über seinen Bruder, über die Mutter, die er nie kennengelernt hatte.
Der Wohlstand, der in diesem Haus so offen zur Schau gestellt wurde, ließ Michael zweifeln: War Stephens Begründung, ihn weggegeben zu haben, die Wahrheit, oder steckte etwas anderes dahinter? Und vor allem – wenn Stephen gewusst hatte, wer Michael war, warum hatte er dann in all den Jahren nie versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen?
Michael saß da und schaute sich um. Die Bibliothek bekam eine ganz andere Bedeutung, als sie beim Hereinkommen für ihn gehabt hatte. Obwohl der Raum warm und einladend wirkte, machte er den Eindruck, als würde er wenig oder gar nicht benutzt. Nirgends lagen Zeitungen oder Illustrierten, und der Papierkorb war leer. Die Regale jedoch standen voller Bücher jeden Genres: Biografien, Reiseberichte, Romane – alles ältere, teils sehr alte Werke.
Auf sämtlichen Regalbrettern und Tischen standen Fotos, die einen wesentlich jüngeren Kelley zeigten: Wie er eine Frau in den Armen hielt; wie er beim Boston Marathon die Ziellinie überquerte. Da waren Fotos von Kelleys Sohn aus verschiedenen Lebensphasen: auf einem Fahrrad; beim Highschool-Abschlussball mit seiner Begleiterin; neben seinem stolzen Vater nach dem College-Abschluss. Aber eine Sache war augenfällig: Abgesehen von den ältesten Fotos war die Mutter auf keinem Bild zu sehen, sondern glänzte durch Abwesenheit.
Michael wurde klar, worauf Stephen gestarrt hatte, was die Stimmung des Mannes zu Beginn ihrer Unterhaltung so gedämpft hatte: Es waren die Bilder seines Lebens gewesen.
Von draußen, von der Eingangstür, ertönte plötzlich ein krachendes Geräusch, das Michael aus seinen Betrachtungen riss. Die Schiebetüren öffneten sich, doch zu Michaels Erstaunen stand ein anderer Mann im Rahmen. Er war gut gekleidet und besaß eine majestätische Ausstrahlung.
»Mister St. Pierre?«, fragte der große blonde Mann und betrat das Zimmer. Er trug eine Ledermappe, die so voll war, dass sie fast aus den Nähten platzte. Ihm folgte ein großer, bulliger Mann mit dickem Nacken, der hinter ihnen die Tür schloss und sich mit dem Rücken dagegenlehnte, als wollte er Michael daran hindern, den Raum zu verlassen.
»Könnten Sie mir einen Moment Ihrer Zeit opfern?« Obwohl seine Stimme freundlich klang und in deutlichem Kontrast stand zu dem unhöflichen Empfang, den man Michael unlängst vor dem Haus bereitet hatte, war es gerade die Freundlichkeit dieser Stimme, die Michael aus der Fassung brachte, und der italienische Akzent, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Augenblicke zuvor war das gemütliche Leben in der Franklin Street 22 erschüttert worden. Drei Männer schritten wie eine Wand die blauen Steinstufen hinauf. Während ihre Gesichter unterschiedlicher nicht hätten sein können, sahen ihre Körper aus, als wären sie Drillinge: groß und schwer wie Footballverteidiger, dabei flink und beweglich. Der größte und massigste der drei Männer schleppte mühelos einen fünfzig Kilo schweren Rammbock, wie die Polizei ihn benutzte. Ohne das leiseste Geräusch zu machen, stieß er ihn gegen den Türknauf und durch das Holz, sodass das Mahagoni ins Haus splitterte. Die Männer schwärmten aus, und ein blonder Mann kam die Treppe hinauf, gefolgt von einem Bodyguard; er schritt durch die zertrümmerte Eingangstür in die Halle, wo er sich vor die Bibliothek stellte.
Die drei Männer überließen nichts dem Zufall.
Susan stürmte aus der Küche, ein Brötchen in der Hand. »Was tun Sie da? Ich …«
Der Mann in der Mitte schnitt ihr das Wort ab, indem er sie vom Boden hochhob, als wäre sie ein Kind. Obwohl sie wild um sich trat und dabei erstaunliche Kräfte entwickelte, war der Mann völlig unbeeindruckt. Er wirbelte Susan herum, bis er sie so im Griff hatte, dass sie nichts mehr gegen ihn ausrichten konnte, während einer seiner Kumpane ihr den Mund zuklebte und ihre Hände und Füße fesselte. Dann beugte der Mann sich nach unten und hielt ihr die Mündung einer Pistole vor das linke Auge. Sie erstarrte. Die drei Männer trennten sich und gingen in verschiedene Räume, drehten dabei unablässig die Köpfe, waren auf der Hut, mit wachsamem Blick.
Und dann tauchte Kelley plötzlich auf, rannte die Treppe hinunter. Als er sah, dass Susan geknebelt und gefesselt war und sich hilflos am Boden wand, rannte er zu ihr, um ihr zu helfen. Doch er schaffte es
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