Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
zum eigenen Nutzen ausschlachten wollen.«
»Selbstverständlich nicht.« Julian schenkte ihm ein neuerliches Lächeln und schüttelte den Kopf.
Michaels Nerven lagen blank. An liebsten wäre er dem Mann an die Gurgel gesprungen.
»Wie konnten Sie Genevieve so etwas antun? Ihrer eigenen Mutter!«, sagte er voller Ekel.
»Sosehr Sie vielleicht glauben, ich wäre für ihr Unglück verantwortlich – Sie befinden sich im Irrtum. Ich habe meine Mutter geliebt und liebe sie immer noch.« Julian wurde nachdenklich; sein Blick richtete sich nach innen. »Ich dachte, ich würde sie kennen. Immerhin hat sie mich großgezogen, mich geliebt. Aber sie hatte sehr viele Geheimnisse, Michael. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie …«
»Was?«
»Wissen Sie, wie es ist, mit einem Menschen verwandt zu sein, der praktisch ein Fremder ist? Der seine tiefsten Geheimnisse vor Ihnen verbirgt? Wissen Sie, wie es ist, einen Elternteil zu haben, der aus Ihrem Leben verschwindet? Der Sie einfach zurücklässt mit einem Berg unbeantworteter Fragen? Wer sie ist, wer Sie selbst sind, wo Sie wirklich herkommen?« Julian stockte, in Gedanken verloren. Schließlich blickte er Michael in die Augen und lächelte. »Wir haben jetzt etwas miteinander gemein.«
»Was ist so besonders an dieser Schatulle?«, fragte Michael widerwillig.
Julian lehnte sich im Sessel zurück und starrte Michael an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich vorbeugte und erklärte: »Was ist so besonders an der ›Mona Lisa‹? Am ›Jüngsten Gericht‹ in der Sixtinischen Kapelle? An Michelangelos ›David‹? Es sind einzigartige, einmalige Kunstwerke – ein Ausdruck von Perfektion, vermittelt durch die Interpretation von Schönheit, wie der Geist des Künstlers sie empfand, während sie zugleich das Mysterium seines eigenen Herzens verbergen, und das seines Schaffens.« Julian hielt einen Moment inne, um auf die eigentliche Frage zurückzukommen. »Das Besondere an dieser Schatulle ist, Michael, dass das Leben Ihres Vaters davon abhängt. Wenn Sie mir die Schatulle nicht bringen, wird er sterben.« Julian erhob sich und stellte sein Glas auf den Kaminsims. »Sie werden diese Schatulle finden, und Sie werden sie mir bringen.«
Michael kam es vor, als würde die Welt über ihm zusammenbrechen. »Selbst wenn ich alles tun würde, wenn ich alles planen, Wege ausarbeiten, den genauen Ort finden und logistisch alles vorbereiten würde – selbst dann würde ich Informationen brauchen.«
»Das hier wird Ihnen einen ersten Überblick verschaffen, ist wie eine kleine Geschichtsstunde.« Julian klopfte mit der Hand auf die Mappe, die auf dem Stuhl lag. »Sie werden sich mit einem Mann namens Fetisow treffen, in Moskau, auf dem Roten Platz. Er wird Ihnen helfen, sich sämtliche Materialien und Informationen zu beschaffen, die Sie benötigen.«
»Moskau?«, wiederholte Michael geschockt.
»Vergessen Sie die Zeiten des Kalten Krieges. Moskau ist heute eine weltoffene, dynamische Stadt – eine wunderbare Kulisse für einen Dieb wie Sie. Und was das Ausarbeiten des Weges angeht, um zum Versteck der Schatulle zu gelangen … Das sollte leicht sein. Folgen Sie einfach der Karte.«
»Welcher Karte?«, fragte Michael verwirrt.
»Der Karte, die Sie in der Schweiz gestohlen haben. Die Karte, die hinter meinem Gemälde versteckt war. Wagen Sie es ja nicht, meine Intelligenz zu beleidigen, indem Sie mir einzureden versuchen, dass Sie das Bild nicht aufgeschlitzt hätten, um das zu sehen, was rechtmäßig ich nach fünfhundert Jahren als Erster hätte sehen sollen.«
Michael blieb ganz ruhig, seine Augen zeigten keine Regung, obwohl die Panik ihn innerlich übermannte. Er hatte das Gemälde aufgeschnitten und voller Verwunderung und Verwirrung auf das geblickt, was darunter versteckt gewesen war: die Karte. Und wie es Genevieves Wunsch und Wille gewesen war, hatte er das Gemälde und die Karte zerstört, damit beides niemals in Julians Besitz gelangen konnte.
Julian Zivera zog ein Handy aus der Jackentasche und warf es Michael zu. »Ich erwarte Ihren Anruf vom Roten Platz morgen Vormittag um zehn Uhr Moskauer Zeit.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Wären Sie bereit, Ihren Vater ebenso bereitwillig aufzugeben, wie er Sie aufgegeben hat?«
Michael starrte Julian in die Augen. Da, wo man gewöhnlich Leben sah, war nichts. Dem abgrundtief Bösen hatte Michael in der Vergangenheit schon mehrmals gegenübergestanden – und es hatte nicht viel anders ausgesehen als
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