Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Auserwählten, für die Gebildeten, für die Reichen. Ein exklusiver Club für diejenigen, die beschlossen, der Tradition die Stirn zu bieten. Gottes Wahrheit war geschaffen worden für all jene, die sich selbst für den Mittelpunkt des Universums hielten – Leute, die, wenn ihnen Schlimmes widerfuhr, irgendjemanden verklagten, um sich wieder besser zu fühlen, und die Lehrer und Vorgesetzte für ihre Unzulänglichkeiten und ihr eigenes Versagen verantwortlich machten. Denn in ihrer Welt irrten sich nur die anderen, machten ausschließlich die anderen die Fehler, niemals sie selbst; deshalb konnte kein Geistlicher es wagen, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hatten. Religion war eine Sache, die man sich aussuchen konnte. Und wenn sie beschlossen, Gott anders zu sehen, dann war das eben so. Julian Zivera würde zur Stelle sein und auf ihre Bedürfnisse eingehen.
Es war schick geworden, Gottes Wahrheit anzugehören, einer der Auserwählten zu sein, einer der Erleuchteten. Und in einer Welt, in der einer dem anderen alles nachäffte, hatten nur ein paar Prominente beitreten müssen, und schon hatten sich die Schleusen geöffnet. Denn wer wusste besser über Religion Bescheid – von Politik und dem Leben an sich gar nicht zu reden – als Prominente?
Busch las weiter, suchte nach Antworten, doch die gab es nirgendwo. Jede Quelle, in die er sich vertiefte, bestand aus den gleichen PR-Artikeln im Hochglanzformat über Julian Zivera. Seine wirklichen Absichten, seine Verfehlungen und Schwächen waren von einer PR-Agentur vergraben oder gekonnt zerschrieben worden. Vor der Welt konnte Julian Zivera auf dem Wasser wandeln. Doch Busch wusste es besser; Michael hatte es mit eigenen Augen gesehen. An diesem Mann war weit mehr, als das Internet preisgeben, als ein Jahresbericht zusammenfassen und ein Kirchenpamphlet verkünden konnte. Keine dieser Quellen – oder überhaupt irgendeine Quelle – würde die Antwort auf die zentrale Frage geben, nach der Busch suchte: Warum sollte ein Mann, der über so riesige finanzielle Mittel und über derart weit reichende Macht verfügte, einen Rechtsanwalt aus Boston entführen, und als Lösegeld eine einfache Schatulle fordern?
Susan stand in einem großen begehbaren Kleiderschrank, der größer war als die Schlafzimmer in den meisten Häusern. Er hing voller Geschäftsanzüge, eleganter Hemden, Freizeit- und Sportkleidung, war voller Schuhe und Turnschuhe. Es war allesamt Männerkleidung. Auf einer Kommode in der Mitte standen zwei gerahmte Fotos: das eine zeigte einen attraktiven Mann, Mitte bis Ende zwanzig, das andere eine Frau Mitte vierzig.
Susan hatte die Stahlkassette aus dem Panikraum geholt. Die Tür zu diesem Raum, die normalerweise hinter einem Spiegel verborgen war, der vom Fußboden bis zur Decke reichte, stand immer noch offen. Susan tat, was sie konnte, um den Blick nicht nur von den Fotos zu wenden, sondern auch von dem geheimen Raum an sich; ihr war, als habe sie Einblick in Stephens größtes Geheimnis, in das Allerheiligste seiner Seele, in das nur er allein sich vorwagte. Er hatte ihr die Zahlenkombination für die Geheimtür verraten, damit sie Michael die Stahlkassette geben konnte. Stephen hatte sie angewiesen, sie Michael sofort auszuhändigen.
Jetzt, allein mit ihren Gedanken, kauerte Susan sich auf den Fußboden und lehnte den Rücken gegen die Kommode. Die Tränen kamen: Tränen des Frusts, Tränen der Angst, Tränen über die Verluste in ihrem Leben, die nie ein Ende zu nehmen schienen. Ein Jahr zuvor war alles außer Kontrolle geraten, und jetzt, als sie gerade geglaubt hatte, ihr Gleichgewicht wenigstens teilweise zurückzugewinnen, stürzte ihre Welt schon wieder ein. Sie und Stephen hatten einen Verlust erlitten, auf den sie beide nicht vorbereitet gewesen waren, und jeder von ihnen hatte gerade erst angefangen zu lernen, wie er diesen Verlust verarbeiten konnte. Die Tragödie in ihrer beider Leben hatte sie einander noch nähergebracht.
Aber jetzt war Stephen verschwunden, und Susan war allein. Der einzige Mensch, der ihr Halt geben konnte, war nicht mehr da. Sie hatte niemanden mehr. Er war immer für sie da gewesen: hatte ihr ihren ersten Job verschafft, als sie noch im Büro des Bezirksstaatsanwalts gewesen war, hatte sie in seiner Anwaltskanzlei weiterkommen lassen. Sie verdankte ihm alles.
Susan weigerte sich, der Welt ihren Schmerz zu zeigen, ihre Tränen, ihre Schwäche. Aber allein, ohne Zeugen, weinte sie sich den Schmerz
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