Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
saß. Sie hatten ihm weder die Fesseln abgenommen, noch den schwarzen Sack vom Kopf gezogen, während sie seine Taschen durchsuchten und ihm sein Handy, seine Kreditkarten, seinen Führerschein, sein Geld abnahmen.
Als man Stephen endlich den Stoffsack vom Kopf riss, sah er drei große, schwere Männer, die vor ihm standen und ihn mit Blicken mahnten, nur ja sitzen zu bleiben und keine Dummheiten zu machen. Kelley war immer noch kräftig und fit für einen Mann von achtundfünfzig Jahren. Er hielt sich seit seiner Jugend an das gleiche Fitnessprogramm, joggte, boxte und machte Krafttraining. Aber selbst wenn er zwanzig Jahre jünger und in Topform gewesen wäre, hätte er keine Chance gegen einen dieser geschniegelten Rowdys gehabt, die vor ihm standen; das wusste er. Die Männer waren massig, bewegten sich aber mit einer Geschmeidigkeit, die erkennen ließ, dass sie tödliche Nahkampftechniken beherrschten.
Nachdem sie Stephens Fesseln durchschnitten hatten, marschierte der Anführer mit dem kurzen schwarzen Haar und den Geheimratsecken schweigend durch die kostbar ausgestattete Kabine. Er wies auf ein privates Badezimmer, die voll bestückte Bar, die Kristallgläser, die für den Start mit Lederbändchen gesichert worden waren, und auf eine kleine Anrichte mit einer Auswahl an Speisen, Zeitungen und Zeitschriften.
»Wohin fliegen wir?«, fragte Kelley.
Die Männer sammelten Kelleys persönliche Sachen und die Fesseln auf. Seine Frage ignorierten sie.
»Wer sind Sie?«, erkundigte er sich.
Ohne Kelley eines Blickes zu würdigen, verließen die drei Männer den Raum. Die Tür machte ein sattes, dumpfes Geräusch, als sie ins Schloss fiel. Dann war er allein mit dem Dröhnen der Flugzeugmotoren.
14.
J ulian rannte über den verschneiten Spielplatz. Zwei Schritte hinter ihm lief der neunjährige Junge, hänselte ihn, machte sich lustig darüber, wie er aussah und was für ein elender Besserwisser er doch sei. Was wie ein Spiel begonnen hatte, war längst über den Punkt hinaus, an dem es noch Spaß machte. Ihre kleine Verfolgungsjagd war völlig außer Kontrolle geraten. Der achtjährige Julian rannte, so schnell er konnte, doch ging ihm zusehends die Puste aus, und er rang verzweifelt nach Luft. Schließlich holte Marco ihn ein und warf ihn auf den frostigen Boden. Alle Kinder, die auf dem Spielplatz waren, kamen herbeigerannt und umringten den blonden Jungen und seinen dunkelhaarigen Erzfeind. Die Schreie »Wehr dich, wehr dich, wehr dich!« schallten Julian in den Ohren. Doch er lag nur da und keuchte, wusste nicht, was er tun sollte, und konnte vor Angst nicht denken.
Julian blickte in die Runde und schaute in die lachenden Gesichter, von denen keines Mitleid für ihn zeigte. Niemand kam ihm zu Hilfe. Marco warf sich auf ihn und stopfte ihm Schnee ins Hemd. Dabei schlug er ihm immer wieder ins Gesicht. Julian versuchte sich zu wehren, war dem Angriff aber hilflos ausgeliefert. Ihm klang in den Ohren, was immer in der Sonntagsschule gepredigt wurde: »Liebt eure Feinde wie euch selbst … biete die andere Wange dar …«
Dann fiel sein Blick auf Arabella. Sie war das neue Mädchen. Sie war erst vor zwei Tagen angekommen und war seine neueste Schwester. Sie stand einfach nur da, sah ihm fest in die Augen und wiegte dabei ein weißes Kätzchen im Arm. Arabella war zehn, älter und größer als jedes der anderen Kinder; trotzdem rührte sie sich nicht und sagte kein Wort, während Marco sich weiter an ihm verging.
Und dann geschah es. Marco tat es nicht absichtlich – er hatte keine Ahnung, welche Folgen seine Schläge hatten, denn sie waren nicht allzu hart. Ein verwirrter Ausdruck legte sich auf Julians Gesicht; er konnte nicht verstehen, warum er auf einmal nicht mehr atmen konnte. Er fühlte sich, als wäre er unter Wasser und rang nach Atem, doch es brachte nichts. Alle sahen, wie sein Gesicht knallrot anlief. Schweigen erfasste die Kinder in der Runde, als Julian sich an die Kehle packte und versuchte, den Unsichtbaren, der ihn würgte, wegzuzerren. Dann gellten die ersten Schreie. Die Kinder gerieten in Panik. Marco sprang von ihm herunter und rannte davon.
Der kleine Julian begriff, warum. Sie hatten zugesehen, wie ein kleiner Junge starb, und dieser kleine Junge war er . Und während die anderen Kinder sich in alle Winde zerstreuten, starrte Arabella ihn weiterhin schweigend an, ohne ein Wort zu sagen, wiegte und streichelte weiter ihr Kätzchen. Sie stand einfach nur da, ohne zu versuchen, ihm
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