Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
auf irgendeine Weise zu helfen. Und das Einzige, was Julian denken konnte, war: Ich will nicht sterben!
Dunkelheit legte sich über seine Augen, und die Welt verblasste. Seine Lunge schien in Flammen zu stehen, während er weiterhin verzweifelt zu atmen versuchte. Und immer wieder dachte er, dass er nicht sterben wollte, nicht sterben wollte …
Julian lag im Bett. Sein acht Jahre alter kleiner Körper war behaglich unter warmen Decken verpackt. Er konnte nicht schlafen; wie im Wahn rasten die Gedanken durch seinen Kopf. Die Winterwinde heulten und wehten mit solcher Kraft, dass die Flammen im steinernen Kamin flackerten. Julian starrte auf das Gemälde an der Wand. Der Engel auf dem Bild schien geradewegs zurückzustarren. Seine gewaltigen weißen Flügel erstreckten sich über die gesamte Leinwand, und er erhob sich aus einem goldenen Baum in den wolkigen Himmel. Die goldene Schatulle in seiner Hand glühte wie die Sonne.
Julian wusste nicht, was passiert war, aber er war nicht tot. Er war auf dem verschneiten Spielplatz zu sich gekommen. Seine Mutter und noch jemand beugten sich über ihn – mit Nadeln, Stethoskopen und einem erleichterten Lächeln. Sein Asthmaanfall ließ nach. Sie brachten ihn sofort ins Krankenhaus, wo man ihn untersuchte und wo es ihm bald wieder gut ging. Sie gaben ihm einen Inhalator und schickten ihn mit seiner Mutter nach Hause.
Genevieve betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie lächelte liebevoll, als sie sich neben Julian auf die Bettkante setzte. »Wie geht es meinem großen Jungen?«
»Ganz gut.«
Sie zupfte an der Decke, wickelte ihn noch fester ein, steckte sich das schwarze Haar hinter die Ohren und legte sich neben ihn aufs Oberbett. »Kinder können manchmal gemein sein. Dass du nicht zurückgeschlagen hast, macht mich sehr stolz, Julian. Marco wusste nicht, was er angerichtet hat. Es wollte dir nicht so wehtun.«
Julian sagte nichts, hörte seiner Mutter nur zu.
»Er wird das Fernsehen und den Nachtisch die nächsten vier Wochen sehr vermissen.« Genevieve lächelte.
Julian fühlte sich ein wenig besser – nun, da er wusste, dass Marco eine Strafe bekam, vor der ihm selbst graute.
»Hast du das Kätzchen von dem neuen Mädchen, Arabella, irgendwo gesehen?«, fragte Genevieve.
Julian blickte seiner Mutter in die Augen. »Nein.«
»Es ist weg. Morgen früh musst du mir helfen, es zu suchen. Das Kätzchen ist alles, was Arabella hat auf der Welt.«
»Sie ist gemein. Sie hat nicht mal versucht, mir zu helfen.«
»Sie hatte Angst, mein Schatz. Sie ist zehn Jahre alt und ganz allein. Es ist unsere Aufgabe, ihr das Gefühl zu geben, dass sie geliebt wird.«
»Mama …« Julians Stimme klang zögerlich. »Warum bekomme ich immer mehr Brüder und Schwestern?«
Genevieve sah ihm tief in die Augen. »Es gibt Kinder auf der Welt, die es nicht so glücklich getroffen haben wie du, Julian. Einige haben keine Mutter und keinen Vater.«
Julian starrte seine Mutter an.
»Es ist wichtig, dass man liebt. Und es ist wichtig, geliebt zu werden. Ich weiß, wie schwer es ist, immer neue Gesichter um sich zu haben. Aber denk immer daran, dass du mein ganz besonderer Junge bist.« Sie rieb die Nase an seinem Ohr. »Wer hat hier sonst noch sein eigenes Zimmer?«
Julian lächelte seine Mutter an. »Keiner.«
»Mit wem verbringe ich die meiste Zeit?«
»Mit mir.«
»Wer ist mein einziges leibliches Kind?«
Julian lächelte beschämt.
»Ich bin froh, dass das geklärt ist.« Sie strich ihm mit der Hand über die Stirn und fuhr ihm mit den Fingern durch das blonde Haar. »Weißt du was? Morgen nehmen wir uns einen Tag ganz für uns. Nur du und ich. Und dann tun wir, was immer du tun möchtest.«
Doch Julian hörte gar nicht mehr zu. Sie blickte in seine Augen, die auf das Gemälde an der Wand starrten.
»Mama?«
»Ja, mein Schatz?«
»Was ist in der Schatulle?«
Genevieve blickte auf das Engelsgemälde an der Wand. Eine Zeitlang wurde ihr Gesicht von den Flammen des Feuers erhellt, und sie versank in Gedanken. Schließlich wandte sie sich wieder Julian zu und lächelte sanft. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn und flüsterte: »Hoffnung.«
Genevieve ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu Julian um. »Schlaf schön.«
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, zählte Julian bis zwanzig; dann schlug er die Decken zurück und rollte sich aus dem Bett. Er ging auf alle viere, griff unter das Bett und zog einen kleinen Pappkarton hervor. Er
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