Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Zentrum der Kultur wegzuschaffen. Russland lag zur damaligen Zeit noch fernab der europäischen Zivilisation und war daher wie geschaffen, um eine Sammlung zu verstecken, die Wissen und Wohlstand repräsentierte und um deren Besitz sich weltliche und geistliche Herrscher bekämpften.
Bei ihrer Ankunft in Russland kam Sofia in eine Stadt, in der Verrat, Raubzüge und Feuersbrünste an der Tagesordnung waren. Deshalb beschloss sie, ihren großen Schatz zu beschützen, indem sie sich auf architektonisches Neuland wagte, wie die Welt es nie zuvor gesehen hatte. Sie rief den renommierten italienischen Baumeister Aristotile Fioravanti an den Hof, der die architektonische Schönheit Italiens und Byzanz’ nach Russland bringen sollte. Fioravantis Stil und Bauweise sind noch heute im Kreml zu bewundern, in Gestalt der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, einem der größten Meisterwerke in der russischen Geschichte. Doch seine allergrößte Leistung, mit der er sich selbst übertraf, haben nur eine Hand voll Menschen jemals zu Gesicht bekommen. Denn unter den Mauern des Kremls erbaute Fioravanti eine fantastische, aus mehreren Etagen bestehende Welt für die junge russische Prinzessin und ihre Bibliothek. Der Bau umfasste Tunnel, Gewölbe und Gemächer aus weißem Gestein. Ein privates Reich für die Prinzessin, in dem sie ihre geliebten Bücher und Kunstgegenstände verstecken konnte. Es war eine Höhlenwelt aus Labyrinthen und Flüssen, Gängen und Gewölben, in die man nur durch geheime Eingänge gelangte, von deren Existenz nur ausgesuchte Mitglieder der königlichen Familie wussten.
Nach Fertigstellung seines unterirdischen Meisterwerks bat Fioravanti, in seine Heimat Italien zurückkehren zu dürfen, wurde jedoch ins Gefängnis geworfen aus Sorge, jemand könne etwas von der Welt unter der Erde erfahren.
Den weiteren Ausbau der Tunnel, Gewölbe und Gänge veranlasste Sofia Palaiologas Enkel Iwan, der erste russische Zar. Er ließ neue Spitzenarchitekten ins Land holen, doch seine Absichten hätten sich kaum mehr von denen seiner Großmutter unterscheiden können. Folterkammern, Gefängniszellen und geheime Tunnel, die in den Kreml hinein- und wieder herausführten, waren die Lieblingsprojekte von Iwan IV., der in die Geschichte als Iwan der Schreckliche einging. Für Iwan musste der Ausbau des Tunnelsystems praktische Aspekte haben; das ging so weit, dass er ausgeklügelte Gewölbe in Auftrag gab, die sein Familienerbe hüten und verstecken konnten.
Kurz vor seinem Tod sorgte Iwan dafür, dass alle, die von der unterirdischen Welt wussten, ermordet wurden. Er veranlasste, dass die Liberia zusammen mit allem, was sie enthielt, aus der Erinnerung der Menschen verbannt wurde und auf ewig für die Geschichte verloren war …
Als Michael über diese russische Welt unter der Erde nachdachte, über eine Welt, deren Existenz auf Sagen und Legenden beruhte, erfasste ihn eine düstere Vorahnung. Er spürte, dass die Bibliothek und alles, was sie enthielt – einschließlich der legendären Schatulle –, niemals dazu bestimmt gewesen waren, gefunden zu werden. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er dorthin kommen sollte.
Schließlich konzentrierte er sich wieder auf die schwarze Kassette, die er soeben aufgebrochen hatte. Er griff hinein und stieß auf ein Stück Leinwand. Er zog es heraus, faltete es zu seiner vollen Größe von neunzig mal einhundertfünfzig Zentimetern auseinander und sah ein Werk, das auf unheimliche Weise dem Gemälde ähnlich sah, das er in Genf gestohlen hatte. Es hatte die gleichen Maße und war auf besonders dicke Leinwand gemalt. Er hielt es in die Höhe. Es war in der Tat ein Kunstwerk, ein friedvoller Engel, der sich aus einem goldenen Baum hinauf in die Wolken schwang, mit weit ausgestreckten, gewaltigen Flügeln, in der Hand eine goldene Schatulle, die von innen zu leuchten schien.
Als habe er eine Art Déjà-vu-Erlebnis, zog Michael sein Messer aus der Tasche und stieß mit der Klinge in die Seite der Leinwand. Mit Leichtigkeit glitt der geschärfte Stahl hinein. Michael fuhr mit dem Messer um das gesamte Kunstwerk herum und löste die Karte vom Gemälde, legte das Gemälde zur Seite und sah sich die Landkarte genauer an. Sie war äußerst komplex und eine exakte Kopie jener Karte, die er in Genf vernichtet hatte. Es schien mehr als zehn Ebenen zu geben, die in einer perfekt dreidimensionalen Zeichnung dargestellt waren. Alles war sowohl in Russisch als auch in Latein beschriftet. Die
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