Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
abgedunkelten Raum starrte. Er knipste das Licht an und betrat den Raum. Den Waffen und Sicherheitsmonitoren schenkte er keine Beachtung; er ignorierte auch die Weinflaschen und die Kisten mit kubanischen Zigarren. Er hatte verschiedene Versionen solcher Räume für Kunden eingerichtet – voll ausgestattete Bunker für den Notfall, die am Ende nichts anderes waren als Lagerräume für Lebensmittel, Kleidung und Medikamente.
Michael starrte an die Wand, auf das penible Arrangement von Fotos, und verlor sich in dem Anblick, der sich ihm bot. Er blickte auf die Bilder. Jedes zeigte das gleiche Motiv, das gleiche Individuum. Immer handelte es sich um ihn, Michael. Es war eine Collage seines Lebens von der Kindheit bis in die Collegejahre, eine Erinnerung in Bildern.
Es vergingen mehrere Minuten, bis Michael seine Aufmerksamkeit den großen, überquellenden Schubladen zuwandte. Als er hineinschaute, stockte ihm der Atem, denn was er sah, war sein Leben. Artikel über ihn aus seiner Highschool-Zeitung, Fotos von Sportveranstaltungen, Mannschaftsfotos, Klassenfotos, Jahrbücher. Eine komplette Chronologie seiner Jugend.
Da waren Artikel über seine große Aufholjagd und seinen Sieg beim Footballmatch gegen das Team von Stepinac, sein Tor bei den Eishockeymeisterschaften nur zwei Sekunden vor dem Abpfiff und ein Programm seines Klavierabends, als er acht Jahre alt gewesen war. Und da gab es noch mehr Bilder von ihm: mit Freunden, an Geburtstagen, mit den St. Pierres … alle zeigten eine glückliche, strahlende Familie.
Im ersten Moment fühlte Michael sich wie vergewaltigt, wie das Zielobjekt einer heimlichen Operation, sodass sich sein introvertiertes Wesen am liebsten hinter einem Schutzschild vor allen Beobachtern versteckt hätte. Er versuchte, seine Nerven zu beruhigen, zog einen Stapel Papier und Bilder aus der Schublade und setzte sich damit auf den Boden. Er fing an zu lesen, sah sich jedes einzelne Foto an, als wäre es gerade erst aufgenommen worden. Ihm wurde bewusst, dass das Leben, auf das er blickte, aus der Perspektive eines Mannes festgehalten worden war, dem er etwas bedeutete, der ihm aber nicht hatte nahekommen können. Ein Vater, der ein Kind aus der Ferne bewunderte, sich zum Wohl seines Sohnes aber von ihm fernhielt. Michael empfand Schmerz und tiefes Mitleid mit diesem Mann, dem es versagt geblieben war, die Erfolge seines Kindes aus der Nähe mit ihm zu teilen. Aus dieser Fotosammlung sprachen weder Besessenheit noch Voyeurismus. Es war eine Sammlung, die Stolz bekundete, Bewunderung für ein Kind, das ein Vater aus Gründen weggegeben hatte, die gerechtfertigt gewesen waren. Michael wurde bewusst, dass Stephen ihn zwar zur Adoption freigegeben, ihn aber niemals aus seinem Herzen verbannt hatte.
Michael durchsiebte sämtliche Papierschnitzel, Bilder, Erinnerungsstücke. Sein Vater hatte sein Leben besser protokolliert als er selbst.
Schließlich sammelte er alles zusammen und legte es ordentlich zurück in die Schubladen. Er warf einen letzten Blick in den Raum, der bis ins Kleinste organisiert war, genau wie Stephens äußeres Erscheinungsbild. Waffen in Waffenschränken, die jeweilige Munition in Kistchen, die unter der dazugehörigen Waffe gestapelt waren. Zigarren, mit Etiketten gekennzeichnet und nach Datum sortiert, und neben dem Telefon eine mit der Schreibmaschine getippte Liste mit Notrufnummern.
Ein Motiv jedoch glänzte auffallend durch Abwesenheit. Es war das einzige Foto, nach dem er sich jemals verzehrt hatte.
Es gab kein Bild von seiner Mutter.
»O Mann«, sagte eine Stimme.
Michael drehte sich um und sah Busch im Türrahmen stehen, der auf die Bilder an der Wand schaute, dieses Denkmal, das Michael zu Ehren errichtet worden war.
Busch blickte seinen Freund an und fand keine Worte. Er kannte derartige Ausstellungen von früher: Sie fanden sich häufig in den Wohnungen und Häusern von Kriminellen, die auf diese Weise ihre Besessenheit mit ihren Opfern zur Schau stellten. Aber das hier war etwas anderes. Busch hatte nicht den geringsten Zweifel, was es war: Das hier war eine Wand des Bedauerns, die zeigte, was hätte sein können. Ein Fenster in die Gefühlswelt von Stephen Kelley.
»Ich glaube nicht, dass er dich jemals weggegeben hat«, sagte Busch leise.
Michael knipste das Licht aus und verließ den Panikraum.
»Wir fliegen nach Russland«, sagte Busch widerwillig. »Richtig?«
Michael und Busch gingen durchs Schlafzimmer und stiegen die Treppen hinunter.
»Ich will
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