Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Mariä-Gewandniederlegungs-Kirche ist benannt nach dem byzantinischen Festtag, an dem man in Konstantinopel die Ankunft des Gewandes der Jungfrau Maria feierte.«
Michael und Susan warfen einander verwirrte Blicke zu.
»Hören Sie«, sagte Michael. »Diese Kirche ist wirklich beeindruckend, aber ich muss endlich wissen …«
»Konzentrieren Sie sich. Hören Sie auf jedes Wort, das ich Ihnen sage, und achten Sie auf jeden Schritt, den wir hier tun«, fiel Fetisow ihm ins Wort. »Vielleicht müssen Sie sich hier bald schon alleine zurechtfinden. Wir kommen schon noch zu der Stelle, die Sie kennen müssen, haben Sie noch ein wenig Geduld.«
Michael konzentrierte sich schon die ganze Zeit auf alles, was man ihnen gezeigt hatte – auf jede Tür, jedes Tor, jeden Abschnitt der Mauer. Er wusste nur zu gut, dass es einer der wichtigsten Aspekte seines Jobs war, sich einen Überblick über sein Umfeld zu verschaffen. Nur hasste er es, gegängelt zu werden.
»Die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale ist die einzige Kirche, die von Russen zugleich entworfen und erbaut wurde. Sie war die Hauskirche der russischen Großfürsten, Prinzen und Zaren, und hier heirateten die Mitglieder der jeweiligen Herrscherfamilie. Hier wurden die Thronfolger getauft, und hier gingen sie zur Beichte. Allerdings herrschten die Zaren mit eiserner Faust, und ich bezweifle, dass auch nur einer von ihnen jemals echte Reue empfand oder eine der Sünden bedauerte, die er begangen hatte.«
Michael und Susan blickten hinauf zu den neun glatten Goldkuppeln; sie glänzten im wolkenlosen Blau des Himmels, und ihre neun Kreuze warfen lange Schatten auf die Scharen vorüberschlendernder Touristen. Der getünchte Kalkstein der Fassade wirkte durch die braune Holzverkleidung der Fenster nur noch weißer.
»Die Kathedrale ist ein Zusammenschluss von Kirchen und Kapellen aus dem vierzehnten bis sechzehnten Jahrhundert, und sie ist die zweitälteste Kathedrale im Kreml. Die Kuppeln, das Dach und die Deckengewölbe der Altarnischen sind mit Gold beschichtet, das Iwan der Schreckliche aus der alten Stadt Nowgorod stehlen ließ, bevor er sie zerstörte. Von wie vielen Ihrer prächtigen amerikanischen Bauwerke können Sie behaupten, dass sie aus Kriegsbeute erbaut wurden?« Fetisow zwinkerte mit seinem schlechten Auge, was völlig unnatürlich wirkte. »Sie wurde im Jahre 1564 fertig gestellt und später massiven Umbauarbeiten unterzogen, damit Iwan, nachdem die Kirche ihn verbannt hatte, trotzdem die Möglichkeit besaß, an Gottesdiensten teilzunehmen.
»1572 heiratete Iwan zum vierten Mal, obwohl der russisch-orthodoxe Glaube nur drei Eheschließungen erlaubt. Also wirklich – wenn man es beim dritten Versuch immer noch nicht auf die Reihe bekommt«, scherzte Fetisow, doch niemand lachte.
»Wie auch immer … Iwan wurde untersagt, der Messe beizuwohnen. Die Kirchenväter, die ihren übellaunigen Zar nicht erzürnen wollten, erlauben ihm jedoch, dem Gottesdienst auf einer in sich abgeschlossenen Galerie beizuwohnen, zu der man nur durch einen separaten, überdachten Eingang gelangte, das so genannte ›schreckliche Portal‹. Als der Zar eines Abends im Jahre 1584 durch dieses Portal schritt, sah er einen Kometen am Himmel, der die Form eines Kreuzes hatte, was er als Vorzeichen seines baldigen Todes betrachtete. Drei Tage später …« Fetisow hielt kurz inne, um seiner Aussage die erforderliche Dramatik zu verleihen. »Tot.«
Susan lehnte sich gegen Michael. »Verschwenden wir hier nur unsere Zeit?«
»Das werden wir erst wissen, wenn wir es geschafft haben oder gescheitert sind.«
»Was ist eigentlich mit seinen Haaren?«, flüsterte Susan und blickte dabei auf Fetisows schwarze Mähne. »Ist das Färben in die Hose gegangen, oder ist es ein billiges Toupet?«
»Ich nehme an …«
»Meine Frau mag die Farbe. Sie färbt mir die Haare zweimal im Monat nach«, sagte Fetisow, ohne in ihre Richtung zu blicken. »Wenn Sie die Farbe mögen, könnte ich arrangieren, dass sie auch Ihnen die Haare färbt.«
Susan lächelte verschämt. »Tut mir leid, das war unhöflich von mir.«
Fetisow drehte sich um und starrte sie mit seinem einen guten Auge an, als sähe er sie in diesem Moment zum ersten Mal. Seine milchig weiße Pupille bewegte sich hin und her, was beunruhigend wirkte. Dann lächelte er. »Ist schon okay. Ich persönlich finde auch nicht, dass es gut aussieht.«
»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Michael, der inzwischen ein wenig genervt war,
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