Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
»aber ich brauche Zugang zu der Stelle, an der die sieben Flüsse zusammenfließen.«
Fetisow blieb stehen, rückte seine Hornbrille zurecht und sah Michael an. »Wohin?«
»Zu einem Zusammenfluss von Kanälen irgendwo unter Moskau.«
Fetisow starrte Michael an. Ein Sturm verschiedenster Gefühle jagte über sein Gesicht. »Sie wollen das von unten angehen?«
Michael nickte.
»Ein Erdarbeiter, wie? Ich dachte, das hier wäre eine andere Art von Operation.«
Zum ersten Mal sah Michael, wie Fetisows Selbstvertrauen ins Wanken geriet.
»Das da unten sind Gerüchte. Ich glaube nicht, dass da was dran ist. Viele Male sind Suchtrupps hinuntergeschickt worden, offiziell und inoffiziell, aber nie wurde etwas gefunden. Es gab keine Spur von Gold, keine Spur von Juwelen. Da war keine Folterkammer und keine Bibliothek. Wahrscheinlich ist alles eingestürzt, und da unten liegt nur noch Geröll.«
Doch schon im nächsten Moment kehrte Fetisows Enthusiasmus zurück, und er nickte. »Das spielt aber keine Rolle. Ich werde schon einen Weg finden, Sie zu diesem Ort zu bringen, den es nicht gibt.«
Fetisow ging weiter.
Michael versuchte, seine Ungeduld zu verbergen und sah sich die Kirche an, die sich vor ihm erhob. Die Kathedrale stand auf offenem Gelände; vier Kuppeln schmiegten sich an ein gewaltiges goldenes Kuppeldach, das sich über ein mehrgiebeliges Dach erhob, das in den oberen Bogennischen mit stilisierten Ornamenten verziert war. Aufwendige Schnitzarbeiten, die Blumen- und Pflanzenmotive zeigten, schmückten die weiße Kalksteinfassade, die vor Verzierungen nur so strotzte.
»Mit der Erbauung der Erzengel-Michael-Kathedrale begann man 1505. Zu diesem Zweck wurde eine andere Kirche abgetragen, die seit 1333 hier gestanden hatte. Sie war von 1340 bis 1712 die Beisetzungsstätte für die Prinzen und Zaren von Moskau, bis Peter die Hauptstadt nach Sankt Petersburg verlegte. Im Inneren befinden sich fast fünfzig Sarkophage. Die Grüfte von Iwan dem Schrecklichen – wir Russen sind übrigens der Auffassung, dass er so schrecklich gar nicht war – und die seiner Söhne Iwan und Fjodor sind in einer Kapelle versteckt. Die Leichname, die in der Erzengel-Michael-Kathedrale beigesetzt sind, ruhen allesamt in Steinsarkophagen, die im siebzehnten Jahrhundert gemeißelt wurden. 1903 wurden Verkleidungen aus Bronze hinzugefügt, mit Inschriften der Namen und Daten in aufwendiger altslawischer Schrift.
Es gab eine alte russische Tradition, nach der man die Toten vor Sonnenuntergang beisetzte, damit sie sich von der Sonne verabschieden konnten, bevor sie in den Himmel aufstiegen. Ausgepustete Kerzen wurden auf die Gräber gestellt. Davor stellte man flackernde Ikonenlampen, sodass die Erinnerung an ihre königlichen Eltern weiterleben konnte. Heutzutage machen die Kinder sich auf und davon mit dem Erbe, das sie von ihren Eltern bekommen, während ihre Ahnen irgendwo verrotten. Und das nennen sie dann eine moderne Welt.
Die Sitte, die Kirche als Beisetzungsstätte zu benutzen, hatte Russland von Byzanz übernommen, wo diese Ehre denen vorbehalten war, deren Vermächtnis nach ihrem Tod weiterlebte: Könige, hohe Beamte und Patriarchen. Familiengrüfte waren dem Erzengel Michael geweiht, der laut christlicher Mythologie die Verstorbenen in das Königreich der Toten geleitet. Diesem Umstand verdankt die Kathedrale ihren Namen.«
Michael spielte weiterhin die Rolle eines Touristen und knipste Fotos, während sein Verstand auf Hochtouren arbeitete und er versuchte, sich jede Kleinigkeit der Welt um ihn her genau einzuprägen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Glockenturm Iwans des Großen zu. Errichtet aus strahlend weißem Backstein, stand er neben der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, die sich zu seiner Linken befand. Iwans Turm war eine der größten Sehenswürdigkeiten Russlands, ein weißes achteckiges Bauwerk, das sich hoch über dem Kreml erhob und in ganz Moskau zu sehen war.
»Der vierstöckige Glockenturm der Mariä-Entschlafens-Kathedrale«, fuhr Fetisow fort, »wurde von dem italienischen Architekten Malij erbaut und verfügt über die größte der einundzwanzig Glocken – die Uspenski-Glocke, die mehr als fünfundsechzig Tonnen wiegt. Als Napoleon im Jahre 1812 mit seinem Rückzug aus Moskau begann, befahl er die Zerstörung des Glockenturms. Aber unfähig, wie die Franzosen nun mal sind, versagte er.«
Sie gingen weiter, vorüber an einer großen Grünanlage, die innerhalb der eingemauerten Festung fehl am
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