Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
gegebenen Talente nutzen müsse, da Gott dem Menschen dies gleichsam als Pflicht auferlegt habe. Julian leitete die Kirche, während Yves wahrer Auftrag die Medizin war.
Yves’ Sehnsucht war neuerlich erwacht. Sein Ziel war, Behandlungsmethoden zu entwickeln, Heilmittel gegen jede Krankheit und jedes Leiden zu finden und sie der Welt zu schenken, statt das Unglück anderer zu nutzen, eigenen Wohlstand anzuhäufen. Yves überließ Julian und Charlotte die kirchliche Arbeit und stellte die besten Ärzte und biomedizinischen Experten ein – von denen viele Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaft waren. Er lockte sie an mit dem Versprechen, ihnen unbegrenzte Mittel zur Verfügung zu stellen, satte Gehälter zu zahlen und ein Umfeld zu bieten, in dem keinerlei Druck ausgeübt wurde, weil man weder Aktionären noch Banken auf irgendeine Weise verpflichtet war.
Gottes Wahrheit war in der Tat zu einem einzigartigen religiösen Großkonzern der modernen Welt geworden; es war ein Glaube, in dem man jede wissenschaftliche Entdeckung als eine Enthüllung der Geheimnisse Gottes betrachtete und nicht als Waffe, um die göttliche Existenz anzuzweifeln. Gottes Wahrheit erkannte die Gegenwart Gottes in der Natur, in der Wissenschaft, in ihren Herzen und in ihrem Alltag. Wie Yves immer gesagt hatte, stand für Gottes Wahrheit Gott stets an erster Stelle.
An einem Sonntagabend machten Yves und Charlotte sich auf zu einem Segeltörn mit Yves’ Schaluppe. Es war ein Ritual, dem Vater und Tochter frönten, seit Charlotte ein kleines Mädchen gewesen war. Es hatte sie zusammengeschweißt, nachdem Charlottes Mutter gestorben war. Beide waren erfahrene Segler und wechselten sich dabei ab, die Segel zu hissen und das Ruder zu bedienen. Yves hatte seiner Tochter sein seemännisches Wissen so gut vermittelt, dass er überzeugt war, sie könne die fast fünfzig Meter lange Jacht ganz allein steuern. Als Julian in ihre Familie kam, luden sie ihn ein, an ihrer Sonntagabend-Routine teilzuhaben, doch er vertagte es jedes Mal auf einen späteren Zeitpunkt und bestand darauf, dass Yves seine Tradition erst einmal weiterführte, wie er es die letzten zwanzig Jahre getan hatte. Julian hatte Yves bereits Charlotte gestohlen. Sie ein paar Stunden in der Woche mit ihrem Vater zu teilen war das Wenigste, was er für den Mann tun konnte.
Yves und Charlotte legten um halb fünf ab. Der Himmel war klar, das Meer war im September ruhig, und es wehte nur eine leichten Brise von Südwesten. Sie segelten los, als die Spätsommersonne langsam zu sinken begann. Vater und Tochter sahen einander an und lebten ganz in diesem Moment; sie ahnten nicht, was die Zukunft ihrer Welt bringen sollte, die so voller Glück war, so voller Liebe und so voller Gott. Sie blickten beide auf das offene Meer hinaus, als das breite weiße Segel vom Wind erfasst wurde und sie davontrug.
Sie kehrten nie zurück.
Am nächsten Tag wurde die Schaluppe fünf Meilen vor der Küste gefunden, gekentert. Die zerrissenen Segel trieben auf dem Meer. Spekulationen wurden laut, als die Suche nach den Leichen ohne Ergebnis blieb. Das Wetter war ideal gewesen, beide waren Könner gewesen, und es hatte keine Notrufe gegeben und keine Anzeichen für einen Kampf auf Gottes Wahrheit , nachdem man die Schaluppe aufgerichtet und in den Hafen gezogen hatte. Es blieben nichts als Fragen über das Verschwinden von Yves und Charlotte, zwei erfahrenen Seglern, die dem Meer zum Opfer gefallen waren. Bei der Untersuchung kam man zu dem Schluss, dass es sich bei ihrem Tod um einen Unfall gehandelt hatte.
Bei dem Trauergottesdienst, der an den Klippen abgehalten wurde, hielt Julian vor zehntausend Anwesenden eine herzzerreißende Trauerrede. Die Welt konnte das Leiden des Sechsundzwanzigjährigen sehen, der über den Wogen des Mittelmeers auf dem Altar stand.
Auch Genevieve war da. Sie kannte den Schmerz, einen Ehegatten zu verlieren und wollte bleiben, solange er sie brauchte; sie wollte da sein, um ihn zu trösten und ihm die stetige Fürsorge zu geben, die nur eine Mutter geben konnte. Sie war so stolz auf ihn gewesen, auf das, was er geleistet hatte und darauf, dass er seinen Hochschulabschluss in den Dienst Gottes gestellt hatte. Sie war überglücklich gewesen, dass er Liebe und Stabilität gefunden und sich ein lebenswertes Leben geschaffen hatte.
Nun war ihm dieses Leben entrissen worden von einem gemeinen Trick, von einem Überfall auf sein Herz.
Als die Predigt und der Gedenkgottesdienst
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