Die Quelle
auf seinem
Nachhauseweg von der Schule heimlich mit Elena und sie lernte von ihm, wie man
sich als Mensch zu benehmen hat.
Sie lernte das Sprechen, das Arbeiten. Sie ging sogar
für einige Jahre in die Schule und machte nie wieder etwas, was sich nicht
gehörte. Jeden Sonntag betete sie zu Gott und die Gemeinde lobte sowohl
Gott als auch die barmherzige Mutter Maria dafür, dass sie Elena
zurückgebracht hatten und eine gute Christin aus ihr geworden war.
Nur Giorgios Gebet unterschied sich etwas von den
anderen: er dankte Gott dafür, dass er ihn zu seinem demütigen
Werkzeug gemacht hatte. Er hatte sich in seinem langen Leben nach dem Tod oft
gefragt, was damals eigentlich passiert war und vor allem, wenn er es war, der
ihr beigebracht hatte, wie man sich als Mensch benimmt, was war sie dann vorher
gewesen?
Als er sie fast fünfzehn Jahre später
geheiratet hatte, hatte er vergessen, sich diese Frage zu stellen. Er wusste
nur noch, dass er in Elena die perfekte Frau gefunden hatte, die er selbst
hatte erziehen dürfen. Er schob die Schuld für ihre anfängliche
Stummheit und für ihr weltfremdes Verhalten auf einen Erziehungsfehler
ihrer Eltern, ein Versäumnis, das seine ansonsten sehr netten
Schwiegereltern zu verantworten hatten. Schließlich waren es damals schwierige
Zeiten gewesen. Alle nagten am Hungertuch und die erhoffte Rettung vor der
Armut, die Mussolini versprochen hatte, hatte sich längst als eine weitere
Verschlechterung entpuppt.
Verdrängung wurde zu Giorgios Lebensbegleiter,
dennoch hatte er sich dabei sehr wohl gefühlt, bis er sich eines Tages als
alter Mann die Frage stellte, was er in seinem Leben falsch gemacht hatte. Die
Antwort sprang ihn an und erschreckte ihn: Elena.
*
Sie war inzwischen fünfundsechzig Jahre alt und
für einen italienischen, traditionsliebenden Mann, wie er einer war, noch
immer die ideale Frau. Sie führte einen perfekten Haushalt, warf ihm nie
etwas vor, auch wenn er nur noch den ganzen Tag herumsaß. Wenn es eine
wichtige Fußballbegegnung gab, war sie die erste in der gesamten
Nachbarschaft, die vorschlug, den Fernseher hinauszustellen, um alle zu dem
Fernsehereignis einzuladen.
Sie lebten inzwischen in einem Dorf in
Küstennähe, noch immer in Ligurien, wo nur ein schmaler Landstrich
die idyllischen Strandpromenaden von den angrenzenden Bergen trennte. Die meist
kleinen Natursteinhäuser, eingepfercht zwischen enge kurvige Straßen
und drohende Abgründe, machten den Charme dieser Region aus.
Ihr eigenes kleines Häuschen war mitten in einer
Kurve gebaut, die so eng und steil war, dass schon manche Autos bei Regenwetter
in ihren Zaun gerutscht waren. Giorgio hätte beide Hände gebraucht,
um zu zählen, wie oft er den Zaun schon hatte reparieren müssen. Doch
er zählte nicht mit, denn auch das gehörte zur Routine in seinem Leben,
worunter Giorgio zunehmend litt. Die Zeit schien irgendwann stehen geblieben zu
sein, als wäre sie von den Bergen eingefangen worden. Sein ganzes Leben
war nur noch Routine.
Jeden Sonntag holte Elena seinen besten Anzug heraus und
beide gingen gemeinsam in die Kirche. Was Elena nie erfahren sollte, war, dass
Giorgios Gebet sich nun geändert hatte. Er bat jeden Sonntag Gott um
Vergebung dafür, dass er sich an jedem einzelnen Tag nur noch
wünschte, er hätte Elena nie getroffen. In ihrem Leben war nur noch
Platz für Pflicht und Schein, doch war es nicht immer schon so gewesen? Wo
war die Leidenschaft geblieben, von der alle Schlagerlieder sprachen, wo waren
die großen Gefühle, das Herzflattern? Er war ein alter Mann und nun
beschlich ihn das Gefühl, dass er seine Chance verwirkt hatte, das alles
kennen zu lernen.
Für Elena schien das Leben einfach geworden zu sein.
Sie freute sich offenkundig über das kleine Häuschen, das sie
zusammen vor einigen Jahren gebaut hatten. Ihr Gemüsegarten, ihre Blumen
und natürlich ihr Mann waren ihr Lebensinhalt und sie schien damit
zufrieden zu sein, als hätte sie vom Leben nie etwas anderes erwartet als
das Leben selbst.
Am liebsten hätte Giorgio sie mit Vorwürfen
überhäuft, denn auch wenn er sich gegen das Gefühl wehrte, so
war für ihn sein Zusammenleben mit Elena schuld daran, dass er nie das
Leben richtig hatte genießen können. Niemals hatte er mit ihr
darüber gesprochen und er wusste, dass er es nie tun würde, denn war
Elena nicht genau die Frau geworden, zu der er sie gemacht hatte?
*
In einer regnerischen Nacht geschah es.
Giorgio und Elena befanden sich im
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