Die Quelle
zu lassen, ehe er nach Hause
ging, wo nur wieder Arbeit auf ihn wartete.
Nun stand er da, fasziniert von einer
Siebenjährigen. Regungslos stand sie am Ufer, ihr Blick ruhte auf das
Wasser. Sie wirkte, als betrachtete sie die schönste Landschaft der Welt.
Ihr Atem war schwer, als würde jeder Atemzug sie anstrengen. Giorgio
versuchte, sich zu erinnern, wie sie hieß, doch sollte er jemals ihren
Namen gehört haben, so wollte es ihm in diesem Augenblick nicht einfallen.
Das einzige, was er von ihr wusste, waren die
Gerüchte. ‚Die Kleine ist eine Hexe.’ Giorgio hatte gelacht, als er das
zum ersten Mal gehört hatte. Auch wenn es früher sehr viele Hexen in
Ligurien gegeben hatte, so waren sie doch alle verbrannt worden und nun, Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts, gab es keine mehr. Aus, basta... obwohl... er war
recht froh darüber, nicht in Triora zu wohnen… Wenn es irgendwo
tatsächlich noch Hexen gab, dann wohl dort, ganze drei Tagesmärsche
entfernt. Das hatte zumindest sein Onkel gesagt, als einige aus dem Dorf
darüber debattiert hatten, ob die kleine Picone nun eine Hexe war oder
nicht. Sein Onkel hatte gesagt, dass sie einfach nur stumm war, vielleicht
einfältig, wer konnte das bei Stummen schon genau wissen?
Nun, bei einem war sich Giorgio sicher: Langsam
fühlte er sich unbehaglich dabei, das Mädchen anzustarren und selbst
dabei wie angewurzelt da zu stehen. Er näherte sich beabsichtigt laut und
warf dem Kind ein paar Worte hin.
„Warum gehst du nicht ins Wasser, das erfrischt!“
Irgendwie schienen seine Worte nachzuhallen und wie er
fand, hatte er ziemlich lächerlich geklungen.
Sei es drum, was kümmerte ihn ein stumme
Siebenjährige? Als er laut plätschernd durch das Wasser watete und
bis zu den Schenkeln im kühlen Nass stand, warf er doch noch einen
Seitenblick zu ihr hinüber. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt, doch
nun konnte er sehen, wie leise Tränen sich einen Weg entlang ihrer Wangen
bahnten. Er hatte noch nie ein Kind so weinen sehen. Ohne Schniefen, ohne
Jammern, nur ein tiefes lautes Atmen und stille schmerzerfüllte
Tränen. Sie sah aus wie eine Miniaturerwachsene, die in tiefer Trauer
versunken war. Sie tat ihm unendlich leid.
Er warf einen kurzen Blick an ihr vorbei, um sich zu
vergewissern, dass keiner seiner Freunde in der Nähe war und ihn
hätte sehen können, dann erst ging er vorsichtig aus dem Wasser zu
ihr.
„Was ist los? Brauchst du Hilfe?“
Sie drehte sich langsam zu ihm, beherrscht, als
würde sie sich die Zeit gönnen, ihrem Körper die perfekte
Bewegung vorzuschreiben und dann erst sah sie ihn an, als würde sie ihn
zum ersten Mal wahrnehmen. Giorgios Unbehagen wuchs mit jeder verstrichenen
Sekunde und er bereute es schon, sie angesprochen zu haben. Sie legte den Kopf
schief und für einen kurzen Augenblick schien es ihm, als ob ihre Augen
die Farbe des Wassers aufgenommen hatten. Noch während er sich die Frage stellte,
ob er es wirklich gesehen hatte, blickte er wieder in ihre traurigen, braunen
Augen. Ihre Lippen bewegten sich nicht und doch hätte er schwören
können, dass sie laut um Hilfe geschrien hatte.
Der Wind wehte, dennoch konnte er das Rascheln der
Blätter nicht hören... Sogar das fließende Wasser, schien
klanglos bergab zu fließen...
Es war, als wäre er mit diesem Mädchen fernab
der Welt gerückt, doch er ignorierte die seltsame Stimmung. Wo sie auch
immer herkam, die Kleine hatte Vorrang... Wenn er doch nur ihren Namen gewusst
hätte...
Elena...
Jetzt wusste er es, als hätte es ihm jemand in
seinem Kopf zugeflüstert.
„Elena, möchtest du, dass ich dich nach Hause
begleite?“
Sie sah von ihm weg, um das Wasser zu betrachten, und sah
plötzlich noch trauriger aus als zuvor.
„Das kannst du nicht.“
Sie konnte ja doch sprechen! Nun sah sie wieder zu ihm.
„Aber, wenn du mir helfen möchtest, dann bring mir
bei, wie man sein muss.“
Giorgios Gedanken rasten wie verrückt. Was meinte
sie genau damit? Wie sollte er das anstellen und konnte er das überhaupt?
Sie antwortete auf seine letzte ungestellte Frage.
„Ja, du kannst es.“
Nur einen Augenblick später, war die stille Umgebung
wieder erfüllt von Geräuschen: er hörte die Vögel, das
Rascheln der Blätter, das Plätschern des Wassers... Das, so hatte
Giorgio schon oft gedacht, als er fast ein Jahrhundert später als Geist in
Daniels Körper gefangen war, wäre der richtige Augenblick gewesen, um
zu fliehen.
*
Doch er floh nicht. Er traf sich täglich
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