Die Quelle
Schlafzimmer ihres
kleinen Häuschens und beobachteten ein Unwetter aus dem Fenster, eine
für sie seltene Naturgewalt. Die für diese Gegend unübliche
Regenmenge schien die kleine Straße vor Ihrem Haus in einem tosenden
Fluss verwandelt zu haben. Die Wassermasse wurde nur knapp von der kleinen
Steinmauer, auf der der Zaun ihres Grundstücks befestigt war,
zurückgehalten.
Elena konnte sich als Erste von dem Anblick lösen
und Giorgio dachte kurz daran, wie gut er der kleinen Träumerin das
Träumen abgewöhnt hatte. Einen Seufzer konnte er sich nicht
verkneifen. Elena war nun schon im Bett und Giorgio schloss die Jalousie. Ein
Auto fuhr vorbei, kurz konnte man die Scheinwerfer aufflackern sehen. Als
Giorgio zu Bett ging, verschwendete er keinen weiteren Gedanken an die
Außenwelt, die er schon lange aus seinem Leben ausgeschlossen hatte.
Kaum hatte er das Licht ausgemacht und sich in seine
Decken eingerollt, hörte er das bedrohliche Quietschen von Reifen gefolgt
vom erschreckenden Geräusch eines Autos, das gegen eine Mauer prallt. Die
Geräusche ließen keinen Platz für Zweifel: der Unfall musste
gewaltig gewesen sein. Giorgio war entsetzt, doch hatte er nicht schon der
Gemeinde gemeldet, dass es eine Frage der Zeit war, bis in dieser Kurve ein
schlimmer Unfall passieren würde?
Elena bekreuzigte sich, ehe sie zusammen mit ihrem Mann
nach unten rannte.
Sie blieb in Pantoffeln und Morgenmantel unter der
Veranda stehen, während Giorgio an der Leiche einer Frau niederkniete. Den
Rettungsdienst hatten sie schon gerufen, doch Giorgio hatte darauf bestanden,
selbst zu sehen, ob er der armen Frau nicht doch helfen konnte. Elena wandte
sich ab. Sie wollte nichts sehen. Sie fröstelte, als könne sie
spüren, wie Unheil sich näherte. Mit Blick auf dem Kruzifix im
Vorzimmer, bekreuzigte sie sich erneut und zog sich in die Küche
zurück… ihr Zufluchtsort, seit sie von Giorgio gelernt hatte, zu leben... ihr
Zufluchtsort vor der Leere, die sie in sich verspürte.
Giorgio nahm die Szenerie in sich auf. Der Zaun, der das
Grundstück von der Straße trennte, war von dem Auto fast
vollständig weggerissen worden. Das Auto war nur noch ein Wrack, dessen
Front nun über die kleine Mauer des Zaunes hing. Vor dem Wagen lag die Leiche,
die offensichtlich durch die Windschutzscheibe geschleudert worden war.
Er kniete draußen im Regen und blickte auf die tote
Frau. Er hatte schon im ersten Augenblick, da er sie gesehen hatte, ein tiefes
Gefühl der Trauer empfunden. Er konnte es sich nicht erklären, denn
er hatte sie nicht gekannt, doch das Gefühl war so
überwältigend, dass er weinen musste. Zum Glück konnte es Elena
vom Inneren des Hauses nicht sehen, er hätte es ihr nicht erklären
können.
Als er die Sirene des Einsatzfahrzeuges in der Ferne
hörte, wollte Giorgio aufstehen, doch plötzlich fühlte er Licht.
Er sah es nicht, die Nacht war noch immer mondlos und unbeleuchtet, doch ein
sanftes, warmes Gefühl übermannte ihn. Die Leiche strahlte etwas aus,
das Giorgio nicht kannte. Er näherte sich, beugte sich zur Leiche... und
fühlte Wärme, Geborgenheit... Liebe.
Als der Wagen der Carabinieri eintraf, war das
Gefühl wieder verschwunden und er ging in das Haus zurück, verwirrter
denn je.
*
Der Spuk hätte vorbei sein müssen, der Zaun war
repariert, die Blutspuren waren vom Regen noch am selben Abend weggespült
worden… und doch war Giorgio noch immer bedrückt. Er wurde das Gefühl
nicht mehr los, er habe, als diese Frau gestorben war, seine Liebe verloren.
Das war absurd, doch so sehr er es auch versuchte, er konnte es sich nicht
ausreden.
Elena schien zu spüren, dass mit Giorgio etwas nicht
stimmte, denn ausnahmsweise versuchte sie ihn zur Arbeit zu animieren, ‚...um
auf andere Gedanken zu kommen’, wie sie sagte. So stand er nun in seiner
Werkstatt und betrachtete sein Werkzeug. Was hatte sie gesagt? Ach ja... neue
Blumenkästen...
Lustlos nahm er sein Werkzeug zur Hand. Und dann
überkam es ihn wieder. Das warme, wohlige Gefühl... Er blickte
verwirrt um sich und nun sah er es. Es war als ob der Raum sich plötzlich
gekrümmt hatte. Erst blass, doch dann immer heller, erschien ihm eine in
Licht gehüllte Gestalt. Sie schwebte über den staubigen Boden seines
Schuppens und streckte langsam einen Arm nach ihm aus, als würde sie ihn
einladen, zu ihr zu kommen.
Giorgio musste lächeln. Er empfand keine Angst, keine
Neugierde, kein Zögern... nur Erkenntnis. Er lief langsam in Richtung
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