Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Schlimme Dinge geschahen immer und überall. Töchter verschwanden und tauchten nie wieder auf. Man hoffte, dass einem selbst so etwas nie passieren würde, aber man war nicht davor gefeit.
Doch auch Wundersames gab es. Ihre beiden Gäste waren der Beweis dafür. Es gab das Unerklärliche, das Unvermutete. Solange es das gab, bestand immer auch Grund zur Hoffnung.
» Gibt es keine Möglichkeit, eure Energie zu erneuern? « , fragte sie.
Die beiden Männer wandelten sich zu Einhörnern.
» Wir werden erst einmal etwas essen. Dann sehen wir weiter. «
Die beiden trotteten auf die Wiese, die neben dem Cottage lag. Es war Irene ein wenig peinlich, doch sie hätte auch nicht gewusst, was sie ihnen außer Salat noch hätte anbieten sollen. Karotten hatte sie noch und Äpfel. Die würden sie sicher mögen. Sie sah den prächtigen Gestalten hinterher und ging dann ins Cottage, um die Karotten zu putzen. Einem Fürsten konnte man nicht gut ungewaschenes Gemüse anbieten.
Als sie den Gemüsenachtisch sowie ein paar Müsliriegel für ihre Gäste angerichtet hatte, fiel ihr Blick auf den kleinen Gettoblaster, der zum Inventar gehörte. Er war alt, doch er funktionierte noch. Es widerstrebte ihr, die Stille zu durchbrechen, und so stand sie eine Weile unschlüssig davor. Dann legte sie eine selbst gebrannte CD ein.
Una hasste es, wenn Irene die Aufnahmen aus den Schulkonzerten spielte, bei denen Una immer brillierte. Doch Irene liebte diese Musik, nicht nur weil es ihre Tochter war, die da zur Harfe sang, sondern weil Una – ganz objektiv und von jeglichem Mutterbonus befreit – wirklich gut war.
Sie vielleicht nie mehr live zu hören, war ein so furchtbarer Gedanke, dass er Irene Tränen in die Augen trieb. Was würde bleiben? Erinnerungen, Fotos und diese einzige CD ?
Entschlossen griff Irene nach ihrer Geige. Auch sie war eine gute Musikerin, vielleicht nicht so begnadet wie ihre Tochter, aber nicht schlecht. Sie spielten nicht mehr allzu oft zusammen. Früher hatten sie das häufig getan, doch mit achtzehn war Hausmusik mit der Mutter vermutlich ein wenig uncool.
Irene sehnte sich danach, wieder mit Una zu musizieren. Sie fühlte sich selten so lebendig wie dann, wenn sie gemeinsam aus ihren Stimmen und ihren Instrumenten etwas entstehen ließen, das Irene immer als etwas Magisches begriffen hatte. Keine flüchtigen Klänge, sondern irgendwie mehr. Eine sinnliche Urgewalt.
Sie startete die CD von Neuem und stimmte mit ein. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, jemals noch mit Una zu spielen. Sie hörte nicht, wie die beiden Männer wieder ins Cottage kamen. Erst als der letzte Ton verklungen war, nahm sie sie wahr, drehte sich aber nicht zu ihnen um.
» Das war wunderschön! « , sagte Perjanu. » Ist das ein Zauberkasten, mit dem du da spielst? «
» Das ist ein technisches Gerät, das einmal gespielte und konservierte Musik wiedergibt. Es ist Una, die da zur Harfe singt. «
Irene legte die Geige wieder in ihren Kasten und entspannte den Bogen.
» Ich habe euch noch etwas zu essen hingestellt « , sagte sie und versuchte, unauffällig ihre Tränen abzuwischen, bevor sie sich endlich zu ihren Gästen umdrehte.
» Danke « , sagte Esteron.
» Ich wünschte, ich könnte mehr tun, um euch zu helfen. «
» Das hast du schon. Deine Musik ist voller Energie. «
» Meinst du damit … Magie? «
» Schönheit hat Kraft. Liebe auch. Spielst du uns noch ein Lied? «
» Una ist die bessere Musikerin. «
» Aber sie ist nicht hier. Ihre Musik ist schön, aber der Kasten, aus dem sie kommt, vermittelt keine Seelenkraft. «
» Und meine Musik tut das? Ich könnte euch hier … versorgen … wenn ich euch nur regelmäßig etwas vorspiele? «
» Auf Dauer leider nicht. Doch du kannst das Unvermeidliche hinauszögern. Das ist gut. Spiel, Irene. «
Irene warf zuerst Esteron und dann Perjanu einen Blick zu, ergriff dann wieder ihre Geige und spielte. All die langsamen Balladen, die so ungeheuer gefühlvoll waren. Die beiden Tyrrfholyn saßen auf dem alten Sofa und knabberten nebenbei Äpfel, Karotten und mit anfänglichem Argwohn, aber wachsender Begeisterung Müsliriegel. Beinahe war es ein schöner Abend.
Doch nur beinahe. Irgendwann legte Irene die Geige beiseite.
» Ich kann nicht mehr « , sagte sie. » Ich bin so müde. «
» Wir waren vorsichtig « , sagte Perjanu. » Wir haben nicht mehr genommen als deine Musik. «
Irene verstand den Sinn seiner Worte nicht, aber sie war zu schläfrig, um noch
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