Die Rache der Engel
verfluchte Autobahn, die die beiden Orte miteinander verbinden sollte, wartete schon seit Jahren auf ihre Fertigstellung, und wenn man kein schnelles Fahrzeug zur Verfügung hatte, konnte sich die Fahrt endlos hinziehen.
Ellens Rechnung ging auf.
Es war fast 20 Minuten vor neun Uhr, als sie mit ihren fast 171 PS an der Calle Juan de Estivadas ankam. Wenn sie diese Straße hinauffuhr, würde sie sogleich in den historischen Ortskern gelangen. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Das GPS , das über Bluetooth mit den Kopfhörern ihres rosafarbenen Glasfiberhelms verbunden war, sagte ihr die letzten Meter der Strecke an. Ellen wunderte sich nur darüber, dass zu dieser Tageszeit die Geschäfte und Bürgersteige fast menschenleer waren.
›Was ist hier los? Warum ist niemand auf der Straße?‹
Als sie abbog und die letzte Steigung vor sich hatte, die sie von den eingegebenen Koordinaten trennte, entdeckte sie die Umrisse eines Menschen. Er hatte nichts besonders Auffälliges an sich. Es war ein junger Mann, der eng anliegende schwarze Kleidung trug– vielleicht ein anderer Motorradfahrer– und der sich leicht gebeugt auf der Motorhaube eines Lieferwagens aufstützte. Vielleicht ruhte er sich ja aus. Aber in der nächsten Sekunde war Ellen beunruhigt. Der Mann trug eine Eagle- 1 -Brille, eine Spezialanfertigung mit Polykarbongläsern für die Eliteschützen der amerikanischen Streitkräfte, die sie sehr wohl kannte. Das war ein Gegenstand, der hier völlig fehl am Platz war. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie, dass eine Sturmhaube einen Großteil seiner Gesichtszüge verdeckte und dass ein schwarzes Kabel in seinem T-Shirt zu irgendeiner Art Sprechfunk führte.
›Zum Teufel!‹
Ellen bremste scharf, stellte die Maschine ab und griff hastig in einen der Seitenkoffer. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals.
›Er wird schießen!‹, dachte sie bestürzt. ›Ich muss ihn festnehmen!‹
In der Tat.
Noch bevor der Mann sein Visier endgültig auf sein Ziel ausrichten konnte, bedrohte Ellen ihn mit ihrer Waffe.
» Stopp! Hände hoch!«, schrie sie.
Der Mann blieb unerschütterlich. Ohne seine Position zu verändern, bewegte er kaum wahrnehmbar das Rohr seiner Waffe und berührte den Abzug, um zu schießen. Im nächsten Augenblick durchbrachen zwei Schüsse aus der Beretta, die Ellen aus dem Seitenkoffer gezogen hatte, die Stille des Ortes. Erst danach konnte Ellen den Helm absetzen, und jetzt erkannte sie, wen sie soeben niedergeschossen hatte: einen muskulösen Mann in der dunklen Uniform der SEAL s für nächtliche Einsätze. » Verdammte Scheiße! Er ist ein Marine!«
Ihre beiden Schüsse waren Volltreffer gewesen. Einer hatte den Hals des Mannes komplett durchquert, der andere hatte ihn zwischen Nieren und Lungen getroffen.
Etwas weiter die Straße hinab, genau dort, wo die Fahrbahn endete, auf der Ellen stand, bemühten sich vier Schatten– die einzigen menschlichen Gestalten, die sie in den umliegenden Gassen erkennen konnte–, eine schwarze Reisetasche in Sicherheit zu bringen, während sie offensichtlich in Verteidigungsposition gingen. Drei von ihnen waren bewaffnete Männer. Die vierte Person war eine Frau mit karottenroten Haaren. Ellen meinte sie aufgrund der Fotos, die sie in Madrid gesehen hatte, wiederzuerkennen. Das war Julia Álvarez! Und, wie sie befürchtet hatte, waren den vier Personen ihre Schüsse nicht entgangen.
Ellen Watson, die lange genug trainiert hatte, in Sekundenschnelle lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, überlegte, wie sie den Kampf mit Männern aufnehmen sollte, die– den Einschätzungen nach, die sie vor ein paar Stunden in ihrer Botschaft vernommen hatte– über höchst effiziente elektromagnetische Waffen verfügten und die zuerst Martin Faber und dann seine Ehefrau entführt hatten.
72
Ich begann zu zittern wie ein kleines Mädchen.
Wir hatten kaum den Albtraum der Explosion in Santa María a Nova überstanden, als wenige Meter von uns entfernt zwei Schüsse zu hören waren. Ich begriff sofort: Es waren starke, dumpfe Geräusche, dann stürzte ein dunkel gekleideter Mann zu Boden, der sich hinter einem Lieferwagen versteckt hatte.
» Anvrep krakoj«, rief Waasfi hinter mir.
» Ein Schütze!«, übersetzte Dujok alarmiert. » Auf den Boden!«
Doch zu meiner Überraschung meinte er nicht den Motorradfahrer, der mitten auf der Straße stand und dessen kurze Waffe in seinen Händen schmauchte. Nein. Die Gestalt, vor der er Angst hatte, war der Mann, der soeben
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