Die Rache der Engel
Lesung? Dein Anruf gestern hat mich beunruhigt. Solche Zeremonien werden nicht so oft abgehalten. Und noch weniger in einer christlichen Kirche.«
» Ich verstehe«, pflichtete Martin bei, während er meine Hand ergriff. » Aber es gibt doch kein Problem, oder?«
» Nein. Wenn es für sie kein…«
» Warum sollte es für mich ein Problem sein?«, meinte ich lächelnd in dem Glauben, es handelte sich um einen kleinen Scherz zwischen zwei alten Bekannten. » Es ist schließlich meine Hochzeit!«
» Meine Tochter… Ihr Verlobter besteht darauf, für die Lesung in der Zeremonie einen Text zu nehmen, der nicht in der Bibel steht. Haben Sie das gewusst?«
» Ehrlich gesagt, nein.«
Martin zuckte mit den Achseln, als wäre dies nur eine weitere seiner Überraschungen.
» Er ist störrisch wie ein Esel«, meinte der Geistliche. » Martin will, dass bei der Trauung eins dieser alten Gleichnisse verlesen wird, in denen Frauen nicht gut wegkommen. Deshalb frage ich mich, ob Sie das möchten. Schließlich sind Sie ja Spanierin und vermutlich eine temperamentvolle Frau und…«
» Stimmt das?«
Ich sah so belustigt zu Martin, dass dem Vikar der Satz im Hals stecken blieb.
» Ja, außer dass ihr Frauen darin schlecht wegkommt«, antwortete Martin lachend.
» Aber, Martin«, ergänzte der Priester, » du stimmst doch wohl mit mir überein, dass es sich um einen außergewöhnlichen Text handelt. Um einen Text, der für eine Trauung eher unpassend ist.«
» Unpassend?« Ich musste die Frage stellen, weil ich vor Neugierde schier platzte. » Warum ist die Textstelle denn unpassend, Father Graham?«
» Ach! Hör nicht auf ihn, Chérie.« Martin versuchte die Bemerkung des Geistlichen hinunterzuspielen. » Dieser Mann traut schon seit Generationen die Mitglieder meiner Familie und beklagt sich immer wegen der gleichen Sache. Ich glaube, er versucht, unsere Tradition zu sabotieren…«, fügte er noch an und zwinkerte mir zu.
» Aber was ist das denn für eine Lesung?«, fragte ich nach.
» Es ist ein archaischer Text, zweifellos sehr wertvoll, der aber nicht kanonisiert ist, Miss. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen. Martin hat mir erzählt, dass Sie Historikerin und Kunstspezialistin sind. Das ist interessant. Ich zeige Ihnen die Textstelle, damit Sie sie selbst beurteilen können.«
Der Geistliche stand vom Tisch auf und ging in der Wohnküche zu dem Regal, das mit in Leder gebundenen alten Büchern mit Ledereinband gefüllt war, und zog ein großformatiges, schmales Exemplar heraus.
» Die ›Genesis‹ erwähnt beiläufig die gleichen Tatsachen, die dieser Traktat in seinem sechsten Kapitel berichtet«, erklärte der Mann, während er den Band, der sehr alt aussah, in der Hand wog. » Leider enthält die Bibel davon nur einen Teil der Information, eine arg zusammengefasste Version, so als wollte sie heikle Details aussparen, die hingegen auf diesen Seiten in allen Einzelheiten ausgeführt sind.«
» Was ist das für ein Buch?«
» Das ist das Henochbuch. Ihr Zukünftiger möchte, dass daraus die Kapitel sechs und sieben gelesen werden, Miss.«
» Das Henochbuch? Ich weiß nicht, ob ich schon mal davon gehört habe.«
Martin wurde auf seinem Hocker unruhig. Ich dachte, dass er sich über mein Interesse an den Einzelheiten der Zeremonie freuen würde, aber ich merkte sofort, dass dem nicht so war. Während der Priester sich in Erklärungen erging, rutschte er unbehaglich auf seinem Platz hin und her, unschlüssig ob er uns unterbrechen sollte oder nicht.
» Das Henochbuch«, fuhr er fort, während er den Band vor mich legte, der so groß war wie ein Almanach und dessen Einband weder Titel noch sonstige äußere Kennzeichen aufwies, » ist ein prophetisches Werk, das die Entstehung der Menschheit und ihre ersten Schritte auf der Erde erzählt. Seine ältesten Abschriften stammen aus Abessinien, dem heutigen Äthiopien.«
» Wie interessant«, stellte ich zu Martins offensichtlicher Verzweiflung fest. » Aber was ist an diesem Buch für eine Frau so ärgerlich, Father Graham?«
» Wenn Sie Geduld haben, erkläre ich es Ihnen«, brummte er. » Im Großen und Ganzen geht es darum, was mit uns geschehen ist, nachdem wir aus dem Paradies vertrieben wurden. Also das, was kurz vor dem zweiten Sündenfall passiert ist.«
» Dem zweiten Sündenfall?«
» Nun… Wenn man der Heiligen Schrift folgt, standen wir zwei Mal davor, ausgelöscht zu werden. Beim ersten Mal, als Adam und Eva aus dem Garten Eden
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