Die Rache der Engel
Herrn.
Deshalb begann bei Pater Fornés, als er sah, dass die Polizeiabsperrung auch diesen Bereich betraf, der Puls wieder zu rasen.
» Aber bei allen Heiligen!«
Da entdeckte er etwas: In der Mauer steckte eine Kugel. Der Einschuss hatte einen Riss in dem Steinblock verursacht, so dass seine Oberfläche teilweise wie Mehl zerbröckelte. Fornés bekreuzigte sich bei dem Anblick. ›Darum werden sich die Restauratoren kümmern müssen‹, dachte er. Aber das war bei Weitem nicht alles. Durch die Beschädigung der angrenzenden Quadersteine war etwas frei gelegt worden. Es schien sich um eine Inschrift zu handeln. Oder ein Stück einer alten Bemalung. Vielleicht ein besonders großes Steinmetzzeichen. Auf jeden Fall war es etwas, was das alte Herz von Fornés noch mehr in Wallung brachte.
Es hatte folgende Form :
Der Dekan trat neugierig näher. Er beleuchtete die Stelle mit seiner Taschenlampe und strich dann mit den Fingerkuppen darüber. Es sah neu aus. Und es hob sich von dem altehrwürdigen Granit ab und verströmte ein schillerndes Licht, ein goldenes Funkeln.
Der faszinierte Padre Fornés hatte den Eindruck, als gäbe es außerdem auch Wärme ab.
›Gütiger Christus‹, dachte er. ›Ich muss sofort Seine Exzellenz benachrichtigen!‹
25
Es heißt, wenn jemand stirbt, sei die Seele der härtesten Probe ihrer Existenz ausgesetzt. Man sagt, dass sie kurz bevor sie in eine höhere Dimension übergeht, vor eine Art Blackbox ohne Form und Abmessungen geführt wird, in der alles gespeichert ist, was sie erlebt hat seit dem Moment, an dem die Nabelschnur durchtrennt wurde und die Lungen zum ersten Mal atmeten. Was die Seele vor dieser Blackbox verspürt, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Plötzlich wird das Bewusstsein in eine Art Reflexion getaucht, bei der es sich von außen wahrnehmen und sich auch aus der Sicht anderer beurteilen kann. Anders als die großen Religionen behaupten, gibt es in diesem Stadium keine Richter. Und auch keine Gerichte. Nicht einmal Blicke, die uns drängen, das Gesehene hinzunehmen. Nichts davon ist nötig. Die Seele lässt die ihr innewohnende Energie verströmen und ist nun in der Lage, selbst zu bewerten, was sie sich angeeignet hat, während sie sich in der fleischlichen Hülle befand. Nach der Rückschau nimmt sie den Weg, der ihr für ihren vibrierenden Zustand am passendsten scheint.
Das einzig Gute an diesem Prozess ist die Entdeckung, dass jenseits tatsächlich ein Weg weiterführt. Ob er hinauf oder hinab führt, hängt von allem Möglichen ab. Denn Himmel und Hölle sind schlussendlich das Ergebnis dieser letzten Rekapitulation – der seelische Zustand, in dem wir verbleiben, nachdem wir bewertet haben, ob in unserem Leben die Erfolge oder die Niederlagen, die Leistungen oder die Irrtümer, der Geist oder die Materie überwogen.
Wir alle– ganz unabhängig davon, welchem Gauben wir angehören– haben schon einmal von diesem Moment gehört. Auch wenn uns religiöse Führer verwirrt haben, indem sie uns strenge Gerichte, großartige Absolutionen und sogar die Wiederauferstehung von den Toten ankündigten, kann ich meinerseits nur diese Phase der Rückschau bezeugen.
Ich habe das in der Nacht im Café La Quintana erfahren, als ich nur wenige Zentimeter neben dem amerikanischen Oberst auf dem Boden lag und meinte, der Moment sei gekommen, um Rechenschaft abzulegen.
Ich war überrascht, wie einfach es mir gefallen war, zu sterben. Was ich anfänglich für eine schmerzlose Ohnmacht gehalten hatte, verwandelte sich plötzlich in eine Flut von Gefühlen und alten Erinnerungen. Ich weiß nicht, woraus ich schloss, dass ich an einem starken Stromschlag gestorben war, so wie Ussa, der Träger der Bundeslade. Vielleicht erklärte das aber, warum ich mich so jäh aus der Zeit katapultiert fühlte, in ein Meer von Bildern gerissen, die nun auf mich einstürmten.
Ich strengte mich an, um zu begreifen. Warum hatte es nicht wehgetan, als ich auf den Boden fiel? Wo war die Kaffeetasse? Was war mit Nicholas Allen und dem Kellner?
Doch eine geraume Weile passierte nichts.
Überhaupt nichts.
Es war, als hätte ich mich in ein Wohlbehagen ohne jegliche Überraschung aufgelöst. Mir war nicht mehr kalt, und allmählich erlangte ich die Gewissheit, dass ich im Erlöschen begriffen war.
Doch als der Frieden schon absolut schien, entflammte etwas in mir. Ich hörte Stimmen. Ohne zu wissen, wie und warum, zogen Bilder aus anderen Zeiten hinter meinen geschlossenen Augen
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