Die Rache der Engel
darin sind die Sumerer. Der Berühmteste von ihnen war Adapa, so eine Art Adam, dessen Aufstieg in das Land der Götter sehr viele Parallelen zu Henochs Abenteuer aufweist– höchstwahrscheinlich waren die beiden ein und dieselbe Person.«
Der Vikar schwieg einen Moment, als müsste er seine Gedanken ordnen.
» Die alten Bücher enthalten zahlreiche unerklärliche Parallelen dieser Art. Ganz gleich aus welcher Kultur oder welcher Gegend sie kommen, ihre Helden bestehen immer die gleichen Prüfungen und sind von den gleichen Reliquien besessen. Ich habe vor Jahrzehnten darüber meine Abschlussarbeit geschrieben und bewiesen, dass sich unsere Spezies seit Jahrtausenden mit den gleichen wesentlichen Themen beschäftigt: dem Tod, dem Kontakt zu Gott sowie in einem geringen Grad mit der Liebe und ihren Abkömmlingen.«
» Wirklich? Was haben Sie denn studiert, Father Graham?«
» Ich habe mich im Studium mit komparativer Mythologie beschäftigt.«
» Und was haben Sie miteinander verglichen?«
» Legenden über die Sintflut.«
» Na, so was.«
» Die Sintflut ist die alte Geschichte, die auf der Welt am meisten verbreitet ist, meine Liebe. Und noch dazu ist sie die homogenste Geschichte. Alle Versionen, ob sie nun aus Babylon oder Mittelamerika stammen, erzählen im Grunde genommen dieselbe Geschichte und spiegeln eine universale atavistische Furcht wider. Utnapischtim im Land Sumer beispielsweise könnte durchaus als Zwillingsbruder von unserem Noah durchgehen. Ebenso wie der Deukalion der Griechen. Oder Manu, der Held der hinduistischen Rigveda, der mit dem Kiel seines Schiffes auf einem Gipfel aufsetzt, als das Wasser ansteigt. Alle haben die Sintflut überlebt, weil Gott sie vor der Katastrophe gewarnt und weil er ihnen aufgetragen hat, nach seinen Angaben ein Schiff zu bauen, mit dem sie sich retten können.«
» Nicht ein Schiff. Dasselbe Schiff«, berichtigte Martin. » Die sumerischen Tontafeln mit dem Gilgamesch-Epos schildern den Bau eines Schiffs mit den gleichen Abmessungen wie das biblische Schiff. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Geschichten liegt darin, dass das Gilgamesch-Epos eine andere Rahmenhandlung aufweist. Sie berichtet von den Anstrengungen, die König Gilgamesch auf sich nimmt, um den einzigen Überlebenden der Sintflut kennenzulernen: Utnapischtim.«
Wahrscheinlich bin ich den beiden Männern wie ein Dummkopf vorgekommen. Oder noch schlimmer, wie eine ungebildete Frau. Ich hatte zwar schon mal vom Gilgamesch-Epos gehört, doch der Zeitpunkt seiner Abfassung– etwa viertausend Jahre vor unserer Zeit– war in meinen Geschichtskenntnissen nicht so präsent.
» Bitte, erzähl weiter«, bat ich Martin.
» Dieses Epos ist wirklich interessant, Julia. Es handelt von der Odyssee eines Sterblichen namens Gilgamesch, der über die Götter verärgert ist, die ihn dazu verurteilt haben, alt zu werden und zu sterben, und der beschließt, den Mann zu suchen, der als Einziger diesem schicksalhaften Kreislauf entronnen ist. Utnapischtim stellt sich als ein rätselhafter König heraus, der mehrere Jahrhunderte vor ihm gelebt hat. Gilgameschs Begierde, diesen Unsterblichen zu treffen und ihm das Geheimnis des ewigen Lebens zu entreißen, seine Kämpfe gegen die Götter und deren furchtbare Geschöpfe führen als Belohnung zu einem Gespräch mit Utnapischtim im Paradies. Dieser erzählt ihm, dass seit der Sintflut die Länge des menschlichen Lebens wegen der Schuld, die unsere Spezies auf sich geladen hat, dramatisch verkürzt wurde. Meinen Berechnungen nach muss sich dieser Niedergang vor etwa elftausend oder zwölftausend Jahren ereignet haben, als wir uns mit einem inkompatiblen Stamm vermischten.«
» Meinst du die ›Himmelssöhne‹ aus dem Henochbuch?«
» Genau.«
Ich war erstaunt darüber, dass Martin über die sumerischen Mythen so gut informiert war. » Wie hast du denn den Zeitpunkt dieser Vorgänge datiert?«, fragte ich.
» Sagen wir einmal so, vom paleoklimatologischen Standpunkt aus ist das die Epoche, die am besten mit einer Naturkatastrophe wie der Sintflut zusammenpasst.«
» Aber warum interessiert dich das so? Du bist doch kein Historiker! Und erst recht kein Genetiker!«
» Liebling«, erwiderte Martin strahlend, » in Wahrheit verbergen all diese Mythen den Bericht über den ersten globalen Klimawandel, den die Menschheit erlebt hat.«
» Wie das?«
» Schau mal, bei diesem Treffen zwischen Utnapischtim und Gilgamesch verriet Utnapischtim, dass es in
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