Die Rache der Flußgoetter
wenn sich jemand findet, den wir belangen können. Aber wenn man schon ein gieriger Schurke sein will, warum dann nicht gleich richtig ungeheuerlich? Warum diese Halbheiten?« »Vielleicht sind sie wie Sklaven oder Soldaten«, schlug Hermes vor. »Sie wissen genau, wie weit sie die Autorität provozieren können, ohne bestraft zu werden.«
»Da magst du recht haben.« Wenn ich nicht mit Gleichrangigen zusammen war, ließ ich Hermes immer offen und frei mit mir reden. In der Öffentlichkeit mußte man sich an gewisse Anstandsregeln halten, doch der Zufall wollte es, daß wir allein waren. »Laß uns zur Tiber-Insel gehen und sehen, ob der Träger-Sklave jetzt sprechen kann.«
Es war nur ein kurzer Fußweg. Wir überquerten die prachtvolle, noch neue Fabricische Brücke zur Insel mit ihrem aus einem Tempel und einem Hospital bestehenden Gebäudekomplex. Der Tempel selbst erstrahlte im Glanz einer neuen Fassade, die irgendein ehrgeiziger Politiker spendiert hatte, um seinen eigenen Ruhm zu feiern. Ich blickte nicht einmal auf, um festzustellen, welcher Name das Giebeldreieck zierte. Wir hatten die Brücke kaum überquert, als wir auch schon Gestöhne vernahmen. »Klingt wie ein Schlachtfeld nach der Schlacht«, sagte Hermes. »Das bedeutet, daß es mehr Überlebende gibt, als ich erwartet habe. Vielleicht können uns einige von ihnen ein paar Antworten geben.« Wir stiegen die mit neuem, schimmernden weißem Marmor verkleideten Stufen hinauf und gingen zwischen zwei prachtvollen Kohlenrosten aus glänzender Bronze hindurch, in denen zu besonderen Anlässen Feuer entzündet wurden. Sie ruhten auf aus Bronze gewundenen Ständern in Form eines Aeskulapstabes. Die Roste waren ebenfalls neu.
Wir fanden den großen Sklaven in einem Ruheraum, wo ein Tempelsklave bei ihm wachte. Offenbar hatten sich die Priester meine Anweisungen betreffs einer Vorzugsbehandlung zu Herzen genommen. »Wie geht es ihm?« fragte ich.
»Seit ich Wache habe, ist er noch nicht wieder zu sich gekommen«,sagte der Sklave. »Manchmal murmelt er irgendwas, aber die meiste Zeit ist er, wie im Moment, ohne Bewußtsein.« Der Pfleger war ein junger Mann in der Kluft des Tempels; eine weiße Tunika, die auf der Vorderund Rückseite mit einem Aeskulapstab bestickt war. Er erhob sich. »Ich werde den zuständigen Priester holen.«
Der komatöse Sklave war groß wie ein Gallier oder Germane, doch nachdem man den ganzen Staub und Putz aus seinem Gesicht gewaschen hatte, erkannte ich die gewöhnlichen Gesichtszüge und die Hauttönung eines Süditalieners. Seine olivfarbene Haut und sein schwarzer Bart, aber auch sein Gesicht erinnerten mich irgendwie an die Menschen aus Bruttium. Seine Augen waren offen, aber starr, und er murmelte pausenlos vor sich hin, obwohl ich kein Wort verstehen konnte.
»Ich glaube nicht, daß er noch lange unter uns weilen wird«, diagnostizierte Hermes. »Soll ich Asklepiodes holen?«
»Ich bezweifle, daß er viel ausrichten könnte. Sein Fachgebiet sind ohnehin von Waffen verursachte Wunden.«
Kurz darauf betrat der Priester den Raum. Wie ich von früheren Besuchen im Tempel wußte, war er ein Sklave namens Harmodias. Eine uralte Tradition bestimmt, daß die Priester dieses Tempels zu einem Drittel Freigeborene, zu einem Drittel Freigelassene und zu einem Drittel Sklaven sein müssen.
Freigelassene und Sklaven waren die besten Berater bei Verwundungen oder heilbaren Krankheiten, während sich die freigeborenen Priester hauptsächlich der Deutung von Träumen Kranker widmeten, die zum Schlafen vor die Aeskulap-Statue im Hauptschiff des Tempels gebracht wurden.
»Wird er sprechen können?« fragte ich ihn.
»Er hat schwere Schädel- und Rückgratverletzungen erlitten, Ädile. Ich habe schon zahlreiche Fälle wie diesen gesehen, aber noch nie eine vollständige Heilung. Selbst eine partielle Genesung ist selten.«
»Ich will nur, daß er sich so weit erholt, daß er reden kann«, sagte ich. »Er könnte durchaus noch eine Weile unzusammenhängend vor sich hin brabbeln, obwohl zwischenzeitlich auch klare Phasen nicht aus zu schließen sind.«
»Darauf kann ich nicht warten. Hast du einen Sekretär, der mögliche zusammenhängende Aussagen dieses Mannes festhalten kann?«
»Das könnte ich selbst tun, aber welche Aussagen wären von Interesse? «
»Dieser Mann war offenbar wach, als das Unglück geschah. Er war jedenfalls bekleidet, und es sieht so aus, als ob er auch auf den Beinen war, als der Boden unter ihm einstürzte.
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