Die Rache der Jagerin
stattfinden muss, kommt es sehr selten vor. Solche Orte gibt es zwar überall in der Stadt, aber nicht in den Kreissälen der Krankenhäuser. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Familie gleich zwei Kinder … Moment mal. »Wyatt, du und Nicky, wart ihr Zwillinge?«, fragte ich.
Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen und sah mich dann mit roten Augen an. »Ich war sechs Minuten älter, aber er hat immer versucht, mich zu beschützen. Das hat er wohl auch getan. Schließlich haben wir überlebt, während unsere Familie starb.«
Hundert Fragen, die alle danach drängten, beantwortet zu werden, schwirrten in meinem Kopf herum. Doch Wyatt wollte die Geschichte offenbar in seinem eigenen Tempo zu Ende erzählen. Ich drehte mich noch etwas mehr zu ihm und hörte ihm einfach zu.
»Ich weiß, dass die Feen zu uns kamen, weil sie die Gabe witterten.« Er sprach nicht nur zu mir, sondern auch zu sich selbst. »Nicky und ich waren schon fast achtzehn, deshalb ist auch niemand hellhörig geworden, als unsere angebliche Tante auftauchte und uns für eine Weile unter ihre Obhut nahm. Sie bot uns Hilfe beim Umgang mit unseren Gaben an und eröffnete uns die ganze Welt der Dregs.«
»Amalie?«
»Ja, in ihrer Avatargestalt. Sie und die Wichte waren von Anfang an die treibende Kraft. Ich stürzte mich voll und ganz ins Training und schaute nicht mehr zurück. In den ersten Monaten waren wir zu siebt, und wir lernten, zu kämpfen und Gegner zu verfolgen – und wie man die Stärke eines Dregs für sich nutzen konnte. Alles, was wir heute noch lehren. Dann fingen wir an zu jagen.«
»Rufus?«
»Er war dabei, der letzte der ersten sieben Rekruten. Allerdings konnten wir uns nicht ausstehen, und daran änderte sich auch lange Zeit nichts.«
Mein Mund zuckte. Vorgestern hatte Rufus dasselbe erzählt. Komisch, dass sich aus dieser Feindschaft im Lauf des Jahrzehnts eine belastbare Freundschaft entwickelt hatte.
Wyatt holte tief Luft, hielt sie an und atmete zischend aus. »Nicky konnte es nicht ausstehen, keine Minute davon, und eine Zeitlang verachtete ich ihn, weil ich ihn für schwach hielt. Ich war so wütend auf alles, was wir verloren hatten, und auf die Leute, die das getan hatten, dass ich nicht mehr klar sehen konnte. Wenn ich Kobolde, Halbvamps oder andere Kreaturen tötete, die wir jagen sollten, dann empfand ich wenigstens etwas. In der übrigen Zeit fühlte ich mich dagegen wie betäubt.«
Junge, wie ich ihm diesen Geisteszustand nachfühlen konnte! »Was ist mit den Kopfgeldjägern passiert, die deine Familie getötet hatten?«
Seine Miene verdüsterte sich mit einem Mal, und aus seinen Augen schossen tödliche Blitze. »Acht Monate nach dem Feuer waren wir kein bisschen besser als die Kopfgeldjäger. Amalie ließ uns über ihre Wichtgehilfen Informationen zukommen, und einige der anderen Kontaktmänner bei den Feen versuchten, uns ein wenig zu dirigieren, aber letztlich gab es keine echte Befehlskette. Zumindest keine, die funktionierte. Deshalb taten wir, was wir wollten.«
Zu hören, dass die Organisation, die ich stets als rigide und straff geordnet erlebt hatte, derart chaotisch begonnen hatte, war für mich aufwühlend und beruhigend zugleich. Mir fiel es schwer, mir Wyatt vor zehn Jahren vorzustellen, den der Zorn von seinem Bruder entfremdet hatte und der vom Gedanken an Rache für die Toten verblendet gewesen war. Das sah dem Mann, den ich kannte, so gar nicht ähnlich – und doch passte es so gut zu ihm.
»Seit letztem Monat ist es genau zehn Jahre her. Damals fand ich durch puren Zufall heraus, wer einer der Kopfgeldjäger war. Ich wollte ihm die Lunge durch die Kehle aus dem Leib reißen und sie wie einen Flügel auf dem Rücken tragen. Nicky wollte mich aufhalten und wollte mich nicht aus der Wohnung lassen. Er meinte, wenn ich diesem Typen hinterherjagen würde, würde auch ich umkommen. Doch ich war so wütend, dass ich davon nichts wissen wollte, und das sagte ich ihm auch. Wir wurden handgreiflich, und ich habe ihn gestoßen.«
Auch wenn Wyatts Stimme gefasst klang, wirkte er plötzlich verloren, völlig versunken in der Erinnerung an den schrecklichen Schmerz. Ich konnte mir denken, wie seine Geschichte enden würde, und ich wollte ihn daran hindern, weiterzuerzählen. Wollte ihm die Qual ersparen. Doch etwas Schweres lag mir in der Kehle und raubte mir die Stimme.
Nach einem tiefen Atemzug sagte Wyatt: »Nicky stolperte und schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante. Der Aufprall
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