Die Rache der Jagerin
bin, dass ich nie die Gelegenheit haben werde, Alex die Wahrheit zu sagen und ihn um Verzeihung dafür zu bitten, dass ich ihn sechs Jahre lang angelogen habe.«
»Weswegen hast du ihn angelogen, Leo?« Verdammt, diese Frage hatte ich nicht laut aussprechen wollen.
Er wirkte müde bis ins Mark und sackte in sich zusammen. »Alex wusste, dass ich Alkoholiker war. Das habe ich nie verborgen, und ich war es viele Jahre lang. Vor sechs Jahren, als seine Schwester Joanne zu Thanksgiving nach Hause kam, war ich es immer noch. Alex war noch nicht vom College zurück, aber die Kinder meinten, sie würden nicht nach Hause kommen, solange ich noch trank. Joanne ging mit ihrer Mutter und mir zusammen essen. Zwei Tage lang hatte ich keinen Tropfen angerührt. Auf der Heimfahrt kam der Wagen von der Straße ab.«
Er hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber irgendwie wusste ich, wie die Geschichte enden würde. Die Tragödie – sowohl für den Vater als auch für den Sohn – brach mir das Herz.
»Sie sind gestorben. Ich nicht. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich gefahren bin, damit sie nicht … Zum ersten Mal seit Monaten war ich ausgegangen, ohne einen Tropfen zu trinken. Bei der Blutprobe wurde kein Alkohol festgestellt, deshalb glaubte die Polizei, dass es ein Unfall war. Obwohl keine Klage erhoben wurde, habe ich seither nichts getrunken. Das war Jahre, bevor Alex wieder einen Anruf von mir entgegennahm. Und da dachte ich, wir könnten unsere Beziehung wieder flicken.« Er wischte sich die Augen.
»Und nun kannst du ihm nicht die Wahrheit sagen«, ergänzte ich mit gepresster Stimme. »Wer saß tatsächlich hinterm Steuer, Leo?«
»Meine Frau. Wegen des Entzugs hatte ich gottserbärmliche Kopfschmerzen, deshalb ist sie gefahren. Sie hatte ein Glas Wein getrunken, wie sie es beim Italiener immer tat. Wenn die Polizisten sie für die Fahrerin gehalten hätten, hätte man bei ihr eine Blutprobe gemacht. Das konnte ich meiner Familie nicht antun. Sie war ja nicht betrunken, und es war wirklich ein Unfall. Aber Alex … Ich wollte nicht, dass er dachte, seine Mutter wäre …«
Leo wollte nicht zulassen, dass Alex seine Mutter hasste, weil sie getrunken hatte – auch wenn sie das Limit nicht überschritten hatte. Weil sie sich und seine Schwester in den Tod gefahren hatte. Da Leo klar gewesen war, dass Alex ihm ohnehin Vorwürfe machen würde, weil er seine Frau hatte fahren lassen, hatte er gleich die ganze Schuldenlast auf sich genommen. Sechs Jahre lang.
»Ist schon okay.« Er schien zu begreifen, dass ich die Sache verstand. Er räusperte sich heftig und rieb sich erneut die Augen. Seine Geschichte war offenbar zu Ende.
Nun war ich an der Reihe.
»Leo …« Die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen, obwohl ich meine Rede den ganzen Morgen geübt und gründlich vorbereitet hatte. Ich hatte die verschiedensten Möglichkeiten durchprobiert, ihm etwas über seinen Sohn zu erzählen, was ein Vater niemals hören sollte. Eine Nachricht, wie ich sie nie zuvor hatte überbringen müssen. Und als ich sie nun überbrachte, vermochte ich nicht von meinen Händen aufzublicken.
»Ist schon gut, Chalice.« Er streckte die Hand aus und drückte mein Knie. »Bitte … erzähle mir, wie mein Sohn gestorben ist.«
Abrupt hob ich den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie waren traurig und entschlossen, und sie fragten nach den Umständen einer Tatsache, die sie bereits akzeptiert hatten. Mein nervöser Magen beruhigte sich ein wenig. Ich legte meine Hand auf seine und drückte sie.
»Na schön«, setzte ich erneut an und holte tief Luft. Atmete langsam aus. »Ich bin nicht Chalice Frost.«
Er blinzelte und zog seine Hand zurück. Verwirrung und Schmerz ließen ihn die Lippen zusammenpressen, und sein Blick wurde kälter. »Wer bist du dann? Eine Polizistin oder so was? Ist Chalice nur ein Deckname?«
Du hast ja keine Ahnung. »Nein, ich bin keine Polizistin, Leo. Ich heiße Evangeline Stone, und vor zwei Wochen bin ich gestorben.«
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1
I ch fuhr im Bett hoch, eine Hand um meinen Anhänger geklammert, die andere ins Laken gekrallt, und versuchte, Fetzen des Traums, der bereits zu zerfließen begann, noch zu erwischen. Irgendwas mit einem Keller … einem kleinen Mädchen … mir? Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir jemals einen Keller gehabt hätten. Wir hatten immer in Appartementhäusern gewohnt.
Ein kleines Mädchen in einem Keller, irgendwas
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