Die Rache der Jagerin
Lauren an. Ich erreichte ihre Voicemail und hinterließ ihr die Nachricht, dass ich in der Mittagspause wieder anrufen würde. Als ich auf dem Weg zum Schließfach meiner Freundin Kari war, rief meine Tante zurück.
»Hab ich jemals in einem Haus mit einem Keller gewohnt?«, fragte ich.
»Dir auch einen guten Morgen.«
»Tut mir leid. Ich hab diesen Traum gehabt, und der nervt mich jetzt.« Ich erzählte ihr das Wenige, an das ich mich noch erinnern konnte.
»Ah, das muss das alte Haus in Allenham gewesen sein. Du warst noch richtig klein damals, es wundert mich nicht, dass du dich nicht erinnerst.«
»Danke. Es war …«
»Das hängt dir ganz schön nach, oder? Das muss ja ein Hammer von einem Alptraum gewesen sein.«
»Irgendwas mit einem Ungeheuer, das im Keller wohnt. Klischeehafter geht’s nicht mehr. Es ist mir richtig peinlich.«
»Ungeheuer? Was …«
Die Lautsprecheranlage an ihrem Ende schnitt ihr das Wort ab, und eine blecherne Stimme sagte: »Dr.Fellows bitte auf Station 3B.«
»Das klingt nach deinem Stichwort«, sagte ich.
»Das kann warten. Ist alles in Ordnung, Chloe? Du hörst dich ein bisschen durcheinander an.«
»Nein, es ist bloß … irgendwie spielt meine Fantasie heute verrückt. Ich hab Milos heute Morgen schon einen Schreck eingejagt, weil ich gedacht habe, ich sehe einen Jungen vors Taxi rennen.«
»Was?«
»War keiner da. Jedenfalls nicht außerhalb von meinem Kopf.« Ich sah Kari an ihrem Schließfach stehen und winkte. »Es klingelt gleich, also …«
»Ich hol dich nach der Schule ab. Tee im Crowne. Dann reden wir.«
Die Verbindung war weg, bevor ich widersprechen konnte. Ich schüttelte den Kopf und rannte hinter Kari her.
Schule. Viel gibt es darüber nicht zu sagen. Die Leute denken, im Kunstzug müsste es irgendwie anders sein – diese ganze kreative Energie, die da vor sich hin brodelt, Klassenzimmer mit lauter glücklichen Schülern, sogar die Emos sind so glücklich, wie ihre gequälten Seelen es eben zulassen. Sie glauben, in Kunstklassen gäbe es weniger Schikane und weniger Konkurrenz. Schließlich gehören die meisten Schüler hier zu dem Typ, der anderswo gehänselt werden würde.
Es stimmt schon, in dieser Hinsicht ist die A. R. Gurney High gar nicht so übel, aber wenn man Schüler zusammensperrt, ganz egal, wie ähnlich sie sich zu sein scheinen, dann werden Grenzen abgesteckt, und Cliquen bilden sich. Statt der Sportler und der Streber und der Außenseiter kriegt man hier eben die Künstler und die Musiker und die Schauspieler.
Ich war für die darstellenden Künste eingeschrieben und wurde somit in den gleichen Topf geworfen wie die Schauspieler, bei denen es weniger auf Talent als auf Aussehen, Selbstsicherheit und Wortgewandtheit anzukommen schien. Ich war nicht gerade der Typ, nach dem sich alle umdrehten, und in puncto Selbstsicherheit und Wortgewandtheit war ich eine komplette Null. Auf der Zehn-Punkte-Beliebtheitsskala hätte ich eine Fünf eingefahren. Absoluter Durchschnitt. Die Sorte Mädchen, über die sich niemand viele Gedanken macht.
Aber ich hatte immer davon geträumt, auf eine Schule mit einem Kunstzug zu gehen, und es war wirklich so cool, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Besser noch, mein Vater hatte mir versprochen, dass ich bis zum Abschluss hier bleiben konnte, ganz gleich, wie oft wir bis dahin noch umzogen. Das bedeutete, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht die Neue war. Ich hatte an der A. R. Gurney als Freshman in der neunten Klasse angefangen. Wie alle anderen hier. Wie ein ganz normales Mädchen. Endlich.
Aber an diesem Tag kam ich mir nicht normal vor. Ich verbrachte den Vormittag damit, an den Jungen auf der Straße zu denken. Es gab jede Menge logische Erklärungen. Ich hatte seine Lunchbox angestarrt und wahrscheinlich einfach nicht gesehen, wohin er wirklich gelaufen war. Er war wahrscheinlich in ein Auto gestiegen, das am Straßenrand wartete. Oder im letzten Moment abgebogen und in der Menge verschwunden. Das war vollkommen plausibel. Warum also machte es mir immer noch zu schaffen?
»Oh, komm schon«, sagte Miranda, als ich in der Mittagspause in meinem Schließfach herumwühlte. »Er steht da drüben. Frag ihn, ob er tanzen geht. So schwer ist das ja wohl nicht.«
»Lass sie in Frieden«, sagte Beth. Sie griff über meine Schulter, holte den leuchtend gelben Beutel mit meiner Lunchbox vom obersten Brett und ließ ihn vor mir baumeln. »Ich weiß nicht, wie du den übersehen kannst,
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