Die Rache der Jagerin
Großes ging.
Der Fünfte, der mit ausgestreckten, übergeschlagenen Beinen dasaß, war mir unbekannt. Er war schlank, hatte ordentlich gekämmtes schwarzes Haar und ein schmales Gesicht, das ein wenig an einen Pferdekopf erinnerte. In seinem dunkelblauen Anzug ohne Krawatte kam er mir wie ein Polizist nach Feierabend vor.
»Ich hätte nicht an dir zweifeln dürfen, Evangeline«, sagte Amalie. Die Stimme war dieselbe, die ich gestern gehört hatte. Sie klang erhaben und leise – und passte nicht so recht zu der hochgewachsenen Frau, aus der sie heraustönte. »Es ist dir gelungen, die Erste Kluft zu beschützen.«
Hinter uns schloss Kismet die Tür. Sie ging um mich herum, um sich mit wachsamem Blick etwas abseits aufzubauen.
»Ich verliere nicht gern«, erwiderte ich.
»Das mag niemand«, gab Amalie zurück. »Doch oft muss man Kompromisse eingehen, um Erfolge zu erzielen.«
Ich blinzelte, weil ich mir nicht sicher war, was ihre letzte Bemerkung bedeuten sollte. Dann schaute ich zu Kismet, die jedoch starr die gegenüberliegende Wand fixierte. Auch Tybalt und Felix wichen meinem Blick aus. Kurz erschien es mir so, als wäre das Trio vor mir ein Erschießungskommando. »Wir haben Tovin aufgehalten und den Unreinen gebannt.« Ein Anflug von Panik erfasste mich. »Er hat sich doch nicht befreien können, oder?«
»Nein, das hat er nicht. Wir arbeiten an einem neuen Zauber, der den alten verstärken soll, um ihn sicher gefangen zu halten. Wegen des Unreinen sind wir nicht hier.«
Okay, das erleichterte mich schon einmal etwas. »Um was für einen Kompromiss geht es dann? Wer dafür die Anerkennung verdient hat?«
Langsam schüttelte Amalie den Kopf. »Nein, dein Sieg über Tovin wird nicht in Frage gestellt und auch nicht die Verluste, die die Halbvampire und Kobolde durch dein Verdienst erlitten haben. Das soll dir keine schlaflosen Nächte bereiten.«
Würde ich überhaupt je wieder in einem Bett liegen? Verzweifelt suchte ich nach einer anderen Erklärung. »Machen die Kobolde einen Aufstand? Verlangen sie meinen Kopf als Rache für Kelsa?«
Ich hätte schwören können, dass Amalie beinahe lächelte. »Es geht zwar das Gerücht, dass sie wegen des Todes einer ihrer Königinnen sehr bestürzt sind, aber nein, sie stellen keine unmittelbare Bedrohung dar.«
Noch nicht, stimmt’s? »Na schön, also was zum Henker machen wir dann hier?«
»Von den Clanältesten ist dem Feenrat ein anderes Problem zugetragen worden.«
Die Clanältesten repräsentierten die Werwesen. Ich musterte den Fremden, und plötzlich waren all meine Sinne in Alarmbereitschaft. Denn ich witterte einen Hinterhalt. Der Mann war viel zu ruhig und selbstsicher, als dass es etwas anderes hätte sein können.
»Es geht um die Kauzlinge, richtig?«, fragte Wyatt und trat vor, so dass er zu meiner Rechten stand. Links von mir änderte Kismet die Haltung und ballte die Fäuste. Ihre Jäger waren angespannt und auf der Hut.
»Ja«, antwortete Amalie.
»Wer sind Sie?«, fragte ich den Fremden.
Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich kurz, bevor er antwortete: »Ich heiße Michael Jenner, und ich setze mich für die Zusammenkunft der Clanältesten ein. Darüber hinaus spreche ich auch für die, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sprechen. Für die Stimmen, die zum Schweigen gebracht wurden und nach Gerechtigkeit verlangen.«
Ich kniff die Augen zusammen, und mein Pulsschlag erhöhte sich. So viel zu dem Versprechen, das ich Phineas gegeben hatte. »Wenn ihr mich haben wollt, warum habt ihr mich dann nicht einfach geholt? Warum schleift ihr mich erst hierher?«
»Wir wollen Sie nicht«, meinte Jenner.
Ich runzelte die Stirn. »Aber wen …?«
»Sie wollen Rufus«, erklärte Wyatt.
Mir krampfte sich der Magen zusammen. Kismet stieß ein fast unhörbares, ersticktes Zischen aus, und mehr Bestätigung war nicht nötig. »Das könnt ihr gleich vergessen«, schimpfte ich los. »Warum?«
Jenner stand auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Unter seinem Anzug zeichneten sich kräftige Muskeln ab. »Rufus St. James hat die Triaden bei dem Überfall angeführt, der zur fast völligen Ausrottung eines unserer Clans geführt hat«, sagte er. Seine Stimme war dabei so emotionslos, als ob er gerade nur einen Cheeseburger bestellt hätte.
»Er hat Befehle von anderen ausgeführt«, wandte Wyatt ein. Er sprach leise und beherrscht – ein deutliches Zeichen dafür, dass es jetzt gefährlich werden könnte. »Wenn
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