Die Rache der Jagerin
damit gerechnet, dass meine Gedanken dabei zu Alex wandern würden. Echte Tränen brannten mir in den Augen und schnürten mir die Kehle zu. Mein Gott, hatte ich denn nicht schon genug für zehn Leute geheult? Nein, denn es war nicht nur meine eigene Trauer um Alex. Auch Chalice vermisste ihn.
»Ach du meine Güte«, hörte ich eine krächzende Stimme, die vermutlich der Alten gehörte. »Geht es ihr nicht gut?«
»Ihr, äh, Onkel liegt im Sterben«, gab Wyatt zurück. »Sie standen sich sehr nahe.«
»Das arme Ding. Es ist so tragisch, wenn uns jemand genommen wird, den wir lieben. Letztes Jahr hat Gott meinen Henry zu sich gerufen, und seither bin ich nicht mehr dieselbe.«
»Ihren Gatten?«
»Meinen Schäferhund.«
Zwischen meine Schluchzer drängte sich ein Lachen, was zusammen ein ersticktes Keuchen ergab, und Wyatt drückte mich ein wenig fester an sich. Dann hielt der Aufzug mit einem Klingeln an. Es machte ein schabendes Geräusch, als sich die Türflügel öffneten.
»Das ist unser Stock«, sagte Wyatt.
Ich hielt den Kopf gesenkt und ließ mich von ihm aus der Kabine schieben. »Gott sei mit Ihnen beiden«, rief die Alte uns hinterher.
Bisher hatte Gott sich nicht blicken lassen, und ich bezweifelte, dass er es heute tun würde.
Wyatt führte mich etwas abseits in die Nähe eines polierten Wasserspenders. Um meinen Kummer zu vertreiben, steigerte ich mich in das Gelächter über den Hundekommentar der dämlichen Frau hinein. Ich verbannte die Trauer in ein Hinterkämmerchen meines Geistes, wo sie erst einmal eine Weile bleiben musste. Da fasste Wyatt nach meinem Kinn.
»Was sollte das eben?«, flüsterte er.
»Das war die medizinisch-technische Assistentin«, erwiderte ich leise. »Die, der ich einen Heidenschrecken eingejagt habe. Das war sie.«
Er erbleichte. »Oha.«
»Ja, deshalb musste ich ein bisschen Theater spielen, bevor sie mich gesehen hätte und wieder in Ohnmacht gefallen wäre.«
»Wusste gar nicht, dass du so gut schauspielern kannst.«
Ich wischte mir die Wangen ab, räusperte mich und hoffte, dass ich nicht so verheult aussah, wie ich mich fühlte. »Kann ich auch nicht«, sagte ich und ging den Korridor hinunter. In Richtung Zimmer 419.
Nach dem Schwesternzimmer, zwei offenen Wartebereichen und einem guten Dutzend anderer Räumlichkeiten waren wir schließlich bei 410, 411, 412 angelangt. Wieder ein Wartebereich, doch dieses Mal ein durch Glaswände abgetrennter Raum mit zugezogenen Vorhängen. Unerklärlicherweise schwang die Tür auf – und wäre in meinem Gesicht gelandet, wenn sie nicht nach innen aufgegangen wäre. Und heraus trat Gina Kismet.
»Das versteht ihr unter Beeilung?«, fragte sie und fügte nach einem Moment hinzu: »Alles klar bei dir?«
»Alles in Ordnung«, antwortete ich. »Was gibt es denn für einen Notfall?«
Sie wich zur Seite und ließ uns eintreten. In dem Warteraum waren fünf Leute versammelt. Da Kismet hier war, verwunderte mich die Anwesenheit von zwei dieser Personen nicht: Tybalt Monahan stand direkt neben der Tür mit dem Rücken zur Wand – wie ein Wächter. Um den rechten Schenkel waren seine Jeans ausgebeult: Darunter verbarg sich ein Verband. Auch er war in der letzten Nacht verwundet worden und begrüßte mich mit einem Nicken, das ich erwiderte. Ihm gegenüber, am anderen Ende des Raums, war sein Triadenkamerad Felix. Trotz seiner jungen Jahre und dem unschuldigen Hundeblick hatte ich auch sein Gesicht beim Kampf im Naturgehege gesichtet. Davor waren wir uns nur gelegentlich begegnet. Am besten erinnerte ich mich an einen Zwischenfall vor zwei Jahren, als ich Tybalt eins auf die Fresse gegeben hatte.
Auf zwei Stühlen gegenüber der Tür saßen zwei Personen, deren Anwesenheit mich allerdings überraschte. Amalie und ihr Leibwächter Jaron lächelten mich höflich an. Hier traten sie natürlich ganz anders auf als bei unserer letzten Begegnung in der Ersten Kluft. »Avatare« nannten sie die menschlichen Gestalten, die sie an der Erdoberfläche annahmen, um sich unauffällig unter den Menschen bewegen zu können. Zumindest schien Amalie sich einzubilden, dass sie im Körper eines langbeinigen Models unbemerkt bleiben würde. Ähnlich dezent trug Jaron den Körperbau eines hünenhaften Profi-Wrestlers zur Schau. Das amüsierte mich besonders, da Wichte in ihrer wahren Gestalt ausgesprochen weiblich wirkten. Und sie waren sonst etwa so groß wie ein Kleinkind.
Dass die beiden sich herbemüht hatten, hieß, dass es um etwas
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